Die Liga ist schon seit mehr als zehn Jahren ungefähr so ausgeglichen wie heute. Die 30 Punkte Differenz zwischen Platz 1 (Servette, 80 Punkte) und Ambri auf Rang 10 (50 Punkte) entsprechen ungefähr der Bandbreite der letzten Jahre.
Dass grosse Namen in der hinteren Tabellenhälfte stecken bleiben wie aktuell Lausanne, Lugano, der SCB oder Zug, ist nicht so ungewöhnlich. Der SCB ist 2016 vom 8. Platz aus Meister geworden und hat die Liga bis 2019 dominiert. Die ZSC Lions starteten den Sturmlauf zu ihren letzten Titel 2018 auf Rang 7.
Was anders ist als in früheren Jahren: Noch nie in der Geschichte ist so viel Geld für ausländische Spieler und Trainerentlassungen verbrannt worden. Wir können es auch so sagen: Die Liga dreht durch. Die Narreteien der Manager bescheren uns die vielleicht beste Saison der Geschichte.
Ach, wie schön, wie klug, wie vernünftig haben unsere Präsidenten, Manager und Sportchefs während der Pandemie gesprochen. Vernünftig wollten sie werden. Die Löhne in den Griff bekommen. Die Trainer in Amt und Würden halten. Die jungen Talente fördern. Dass ausgerechnet in dieser Zeit die Anzahl Ausländer von vier auf acht erhöht wird, entspricht den Forderungen dieser Zeit: Fortan sollten die Ausländerpositionen mit «Billigarbeitern» besetzt werden.
Allen voran SCB-Manager Marc Lüthi schwärmte von blühenden Hockey-Landschaften im Osten und Norden, wo hochtalentierte Spieler sehnsüchtig darauf plangen, endlich in der Schweiz für 30'000 oder 40'000 Franken ihre Künste vorführen zu dürfen. Die Erhöhung der Anzahl Ausländer werde, ganz im Streben nach Vernunft, dazu führen, dass die Löhne, die Ausgaben sinken werden. So ist es hoch und heilig gelobt worden.
Viele glaubten den Unsinn, den sie erzählten. Ein Chronist musste gar befürchten, dass unsere Eishockeywelt vernünftig und langweilig wird. Keine Trainerentlassungen. Keine teuren Ausländer. Kein hektisches Einfliegen von ausländischem Personal während der Saison. Kein Anlass auch nur zur geringsten Polemik.
Wer sich ab und zu die Mühe gönnt, in einem Geschichtsbuch zu blättern, wusste, dass es keinen Grund zur Sorge gibt, dass wir vor wunderbaren Zeiten stehen. Die Geschichte lehrt uns nämlich, dass niemand aus der Geschichte lernt. Noch nach jeder Krise ist es in der Welt verrückter und unvernünftiger zu- und hergegangen als vor der Krise. Und so ist es nun – den Hockeygöttern sei gedankt – nach der Pandemie auch in unserem Hockey. Bereits sechs Trainer sind ihres Amtes enthoben worden, einige sogar ohne Not. Es rockt, es rollt gerade in Hockey-Hauptorten wie Zürich, Davos, Lugano und Bern wie selten zuvor. Und damit sind wir beim SC Bern angelangt.
Mittelmass geht nicht in Bern. Der SCB ist wie Bayern München von seiner DNA her dazu verurteilt, erfolgreich, laut und unterhaltsam zu sein. Was die Führung dieses Unternehmens nicht erleichtert.
Der SCB hat bereits den Trainer ausgewechselt und einen zusätzlichen Ausländer eingeflogen. Bisher ist bei weitem nicht alles optimal gelaufen. Die Ursachen sind vielfältig, einige hausgemacht und andere nicht. Verletzungspech hat wichtige Spieler ereilt und das Eis ist dadurch noch dünner geworden. Es ist nach wie vor fraglich, ob es für eine direkte Playoff-Qualifikation (Rang 6) reicht. Pro Spiel fehlen im Vergleich zur letzten Saison vor der Pandemie (2019/20) im Schnitt 1019 Zusehende und die Stadionauslastung ist um fast zehn Prozent auf nur noch 85,54 Prozent gesunken. Das ist bedenklich.
Krise? Eine echte, gefährliche nur dann, wenn Krisenstimmung in der Kabine oder in den Büros von Präsident Marc Lüthi, Manager Raeto Raffainer, Trainer Toni Söderholm und Sportchef Andrew Ebbett ankommt. Oder noch einfacher gesagt: Der SCB mag auf dünnem Eis stehen, ist aber trotzdem ein Meisterkandidat. Allerdings nur, wenn alle die Nerven behalten. Das vergangene Wochenende hat es eindrücklich gezeigt.
Der SC Bern hat am Freitag auf eigenem Eis nach einer 2:0-Führung gegen den HC Davos 2:4 verloren. Bereits am Sonntag gelingt in Davos die Korrektur mit einem Verlängerungssieg (3:2). Obwohl hinten und vorne wichtige Spieler fehlen (u.a. Romain Loeffel, Simon Moser). Obwohl Torhüter Philip Wüthrich in diesen zwei Partien gegen den HCD offensiv produktiver ist als Team-Topskorer Chris DiDomenico. Der flamboyante Kanadier bleibt in diesen zwei Spielen ohne Skorerpunkt. Philip Wüthrich kann sich beim 0:1 in Davos einen Assistpunkt gutschreiben lassen.
Wenn der Goalie offensiv besser ist als der Topskorer und offensive Leitwolf und trotzdem ein Sieg in Davos oben gelingt, dann hat ein Team Substanz. In einer guten Free-Jazz-Band kann sich der Tenorsaxophonist auch mal rarmachen, um der Trompete Raum zu geben: Tristan Scherwey trifft beim 2:4 in Bern und beim 3:2 in Davos je einmal. Sein Treffer am Sonntagabend in Davos ist ein Schulbeispiel für Leidenschaft, Mut und Willen. Er ist die Trompete im SCB-Offensivspiel. Und damit kompensiert er die Funkstille von Chris DiDomenico, dem Tenorsaxophonisten im SCB-Offensivspiel.
Hier sind wir bei Punkt eins im Kapitel «Nerven behalten» angelangt. Es ist noch kein Grund, die Nerven zu verlieren, wenn DiDomenico nicht trifft und sowohl beim 2:4 in Bern (−2) als auch beim Sieg in Davos (−1) mit einer Minus-Bilanz vom Eis muss. Das könnte in den nächsten Wochen noch ab und an der Fall sein. Keinem anderen Stürmer in der Liga ist bisher so viel Eiszeit zugemutet worden (22:06 Minuten). Er ist der einzige Stürmer, der diese Saison pro Partie länger als 22 Minuten gearbeitet hat. Er muss ab und an ein wenig durchatmen und kann nicht immer auch noch beim Zurücklaufen Vollgas geben.
Weitaus heikler ist die Situation bei Philip Wüthrich. Beim SCB gehören Titanen im Tor zum Selbstverständnis: René Kiener, Jürg Jäggi, Renato Tosio, Marco Bührer. Philip Wüthrich muss also im Alter von 25 Jahren schon in sehr grossen Schuhen stehen.
Bei den Heimniederlagen gegen Servette (5:7) und die Lakers (5:6) ist er kein grosser Goalie. Die Statistiken sind mit Fangquoten von 82,86 und 75,00 Prozent bedenklich. Insgesamt ist er aktuell statistisch bloss die Nummer 13 der Liga. Das Murren im SCB-Volk in der Stadionbeiz über die Torhüterleistung ist diese Saison unüberhörbar. Die «Berner Zeitung» widmete der SCB-Goalie-Problematik am letzten Freitag fast die ganze erste Seite des Sportteils und stellt besorgt die Frage: «Torhüter in der Kritik – zu Recht?»
Formschwächen von Stürmern und Verteidigern haben meistens keine weitreichenden Folgen. Das Beispiel von Chris DiDomenico beim HCD-Wochenende zeigt ja, dass ein Teamkollege (wie in diesem Fall Tristan Scherwey) einspringen kann. Kommt dazu: Fehler oder Formschwächen von Feldspielern haben in der Regel keine dramatischen Auswirkungen. Die Teamkollegen können sie ausbügeln bzw. kompensieren. Eishockey ist schliesslich ein Mannschaftsport. Oder?
Beim Torhüter ist es anders. Die letzten Männer sind Einzelsportler in einem Mannschaftsspiel. Ein ganzes Hockey-Unternehmen, der Trainer und die Spieler vertrauen einer Nummer 1. In Bern ist Philip Wüthrich diese Nummer 1. Es kann nur eine Nummer 1 geben. Ist die Nummer 1 verunsichert, dann ächzt und knirscht es im Gebälk.
Kritik und Zweifel des Publikums kann ein Goalie vom Format Philip Wüthrichs verkraften. Er ist jetzt immerhin schon im dritten Jahr in Bern. Mit der starken Reaktion in Davos (Fangquote 93,33 Prozent, die beste seit dem 5:2 am 22. Dezember gegen Kloten) hat Wüthrich bewiesen, dass er mental robust ist. Aber interne Kritik und Zweifel können das Selbstvertrauen, die Sicherheit eines Torhüters «zerstören».
Womit wir beim Punkt zwei im Kapitel «Nerven nicht verlieren» sind: Cool bleiben, wenn Wüthrich in den nächsten Wochen mal dieser oder jener Puck durchrutscht. Der SCB kann zur Absicherung einen ausländischen Goalie holen. Aber nur und ausschliesslich zur Absicherung. Ohne jeden Hintergedanken.
Im weiteren Verlauf dieser Saison und mittelfristig bei der Rückkehr zu alter Grösse ist Philip Wüthrich die zentrale, die wichtigste Persönlichkeit beim SC Bern. Sage mir, wie es um Wüthrich steht, und ich sage dir, wie es dem SCB geht. Aber sage mir auch, ob Präsident Marc Lüthi, Manager Raeto Raffainer und Sportchef Andrew Ebbett die Nerven behalten.
Der kostet eine Lizenz und die wird man sicher nicht dafür verwenden, das Türchen auf und zu zu machen.
Wenn man einen ausländischen Goalie hinter, dann um Spiele zu gewinnen.
Wüthrich kommt schon gut, es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Bührer oder Genoni hatten auch öfters mal Hänger während der Quali.