Die Welt ist ein Dorf. In Rohrbach, einem Dorf in der Nähe von Langenthal, steigen am frühen Sonntagabend Feuerwerke in den klaren, dunklen Nachthimmel. Der Grund: 12'000 Kilometer südwestlich von Rohrbach ist Dominique Aegerter (31) Weltmeister geworden. Das ist in einem Dorf mit knapp 1400 Einwohnern wahrlich ein Grund, auch mal an einem anderen Tag als am 1. August ein paar Feuerwerke abzubrennen.
Bereits in der ersten Kurve ist alles entschieden. Steven Odendaal (28) stürzt. Zu Fall gebracht vom Spanier Manuel Gonzalez. Dominique Aegerter ist damit praktisch Weltmeister. Gewiss, der Südafrikaner schwingt sich wieder in den Sattel und fährt weiter. Er reiht sich als 18. ins Feld ein. Will er den vorzeitigen Titelgewinn des Schweizers verhindern, muss er vor ihm ins Ziel kommen.
Unmöglich. Sechs Runden vor Schluss gibt er auf und beendet das Rennen. Damit ist Dominique Aegerter definitiv Weltmeister. Er müsste nicht einmal mehr das Rennen beenden. Er zeigt sich nun als würdiger Champion, kehrt nicht an die Box zurück (was er hätte tun können, um bereits den Titel zu feiern) und fährt auf Platz 3.
Dominique Aegerter ist nach Luigi Taveri, Stefan Dörflinger, Jacques Cornu, Tom Lüthi und Randy Krummenacher erst der sechste Schweizer, der im Töff-Strassenrennsport in den Soloklassen Weltmeister wird. Natürlich hat dieser Triumph in der Supersport-Klasse nicht das Prestige der Titel von Luigi Taveri, Stefan Dörflinger und Tom Lüthi, die alle in der «höchsten Liga», im GP-Zirkus herausgefahren worden sind. Es ist eine Weltmeisterschaft auf Höllenmaschinen, die sehr nahe an den Serientöffs sind. Das gilt auch für den Titel von Jacques Cornu in der Langstrecken-WM (1982) und natürlich für Randy Krummenacher, der 2019 in der gleichen Klasse wie jetzt Dominique Aegerter Weltmeister geworden ist.
Jede Weltmeisterschaft hat ihre eigene Geschichte. Und die von Dominique Aegerter eine ganz besondere. Er hat diese Saison nebenbei auch noch den «Batterie-Weltcup» bestritten, die Meisterschaft auf den elektrischen Motorrädern. Deshalb musste er wegen Terminkollisionen zwei Supersport-Rennen auslassen. Und hat trotzdem nun im argentinischen San Juan im drittletzten Rennen der Saison bereits den Titel gesichert. Das mag zeigen, wie sehr er diese Klasse dominiert. Er hat 10 von bisher 19 Rennen gewonnen plus zwei 2. und drei 3. Plätze herausgefahren. Und dass er fahrerisch immer noch gut genug wäre für die Moto2-WM. Aber eben: Nicht mehr gut genug, um im GP-Zirkus ein Siegfahrer zu sein, der kein Geld bringen muss, um zu fahren. Sondern Geld verlangen kann.
Talent, Mut, taktischer Schlauheit und Coolness – das ist der weltmeisterliche Mix von Dominique Aegerter. Die Besonderheit dieses Erfolges: Es ist eine Familiengeschichte und hat auch eine Prise Romantik. Nach dem Abschied aus der Moto2-WM im Herbst 2019 kehrt der Rohrbacher zu seinen Wurzeln zurück. Einen Manager braucht er nicht mehr.
Nun zahlt sich aus, dass er nie arrogant geworden ist, dass er sein Dorf nie verlassen, dass er nie vergessen hat, woher er kommt. Er verliert zwar Sponsoren. Aber die langjährigen Geldgeber halten ihm die Treue. Kevin Aegerter übernimmt das Management und mit erstaunlichem Geschick und einer Prise «Bauernschlauheit» orchestriert er seither die Karriere seines Bruders. Nach einer Zwischensaison (2020 «nur» Moto2-Ersatzpilot und Einsätze im «Batterie-Weltcup») fädelt Kevin Aegerter für die Saison 2021 den Vertrag mit dem Ten Kate-Team (Yamaha) in der Supersport-Klasse ein. Mutter Beatrice hält ihren beiden Söhnen als kluge, geduldige Administratorin zu Hause in Rohrbach im Büro den Rücken frei.
Nächste Saison tritt Dominique Aegerter mit dem gleichen Team zur Titelverteidigung an. Vorgesehen sind auch einzelne Einsätze mit einer Wild Card in der Superbike-WM. Der Aufstieg in diese Klasse für die Saison 2023 ist nicht ausgeschlossen. Der WM-Titel ist die vorläufige Krönung einer Karriere, die noch lange nicht zu Ende ist.