Die Wahrheiten leuchten auch im neuen Zürcher Stadion oben auf dem grössten Videowürfel Europas auf: 2:1 gegen Biel. 12'000 Zuschauer. Ein Heimsieg in einer ausverkauften Arena. Ein perfekter Einstand für Marc Crawford.
Er hatte die ZSC Lions im Frühjahr 2016 nach vier Jahren verlassen, um in die NHL zurückzukehren. Nun ist der charismatische Kanadier zurück. Wenn ein neuer Trainer kommt, ist es fast ein wenig wie beim 18-Minuten-Sketch «Dinner for One». Diener James hat dafür zu sorgen, dass die Geburtstagsfeier einer englischen Lady mit vier Gästen über die Jahre immer genau gleich abläuft. Sogar dann, als alle vier Gäste längst verstorben sind. Jedes Jahr fragt Diener James: «The same procedure as last year, Miss Sophie?» – «The same procedure as every year, James.»
So ist es eigentlich seit Anbeginn der Zeiten nach dem ersten Spiel eines neuen Trainers: «The same procedure as every year.» In verschiedenen Worten sind es seit Menschengedenken stets die gleichen Aussagen: Es wehe ein neuer Wind, nun schaue man vorwärts. Dazu ein paar nette Worte über den gescheiterten Vorgänger.
Die Leistung des Teams wird in den ersten Partien unter neuer Leitung allenthalben milde beurteilt. So wie ein unglücklich Verliebter jede Regung seiner Angebeteten als Zeichen der Zuneigung und Liebe deutet, so wird bei den ersten Spielen unter einem neuen Trainer in jedem Spielzug das Positive, das Neue, das Bessere gesehen. Auch wenn fast alles gleich ist wie unter dem alten Trainer. «The same procedure as every year.»
In Zürich werden die Trainer zwar nicht gerade jedes Jahr entlassen. Aber doch recht häufig. Seit Marc Crawford die ZSC Lions 2016 verlassen hat, sind alle seine Nachfolger des Amtes enthoben oder nicht mehr weiterbeschäftigt worden: Hans Wallson, Hans Kossmann, Serge Aubin, Arno Del Curto und soeben Rikard Grönborg.
Auf dem Eis ist bei Crawfords Einstand am 1. Januar eigentlich fast alles noch so wie zuvor unter Rikard Grönborg. Die ZSC Lions gewinnen knapp 2:1. Gegen ein Biel, das ohne seine beiden erkrankten ausländischen Verteidiger auskommen muss. Die defensiven Frischlinge Noah Delémont (20), Yannick Stämpfli (22) und Luca Christen (24) hatten diese Saison bisher pro Partie noch nie mehr als zehn Minuten Eiszeit erhalten. Nun, da die ausländischen Titanen der Defensive fehlen, kommen alle drei gegen die ZSC Lions auf Saison-Rekordwerte: Noah Delémont auf 19:26, Yannick Stämpfli auf 18:52 und Luca Christen auf 13:56 Minuten. Im Tor steht der Veteran Simon Rytz (39). Er hatte den ZSC Lions schon 2015 im Viertelfinal das Leben schwer gemacht. Die Zürcher brauchten sieben Spiele, um Biel aus den Playoffs zu kippen. Der Coach der ZSC Lions damals: Marc Crawford.
Biel ist zwar als Tabellenführer (punktgleich mit Servette) zum ersten Spiel im neuen Jahr nach Zürich angereist. Aber gegen diese «Pfadfinder-Verteidiger» und ihren Senioren-Torhüter müsste eigentlich eine der teuersten und offensiv bestbesetzten Mannschaften Europas schon fünf, sechs, sieben oder acht Tore oder gar ein «Stängeli» erzielen. Ein stürmisches Spektakel bieten. Offensiv rocken. Die Bieler vom Eis fegen.
Davon kann keine Rede sein. Wenn es denn hätte rocken sollen, so bleibt es bei einer offensiven Jam-Session. Das 1:0 fällt im Powerplay und erst in der 52. Minute erlöst Justin Azevedo die Zürcher mit dem umstrittenen 2:1. Ein Zittersieg.
Eigentlich ist alles so, wie es in den letzten Wochen immer war: Seit dem 6:4 in Zug am 27. November haben die Zürcher in sieben von elf Partien nur zwei oder weniger Tore erzielt. Sie haben beim 2:1 gegen die Bieler eigentlich nicht viel anders gespielt als zuvor unter Grönborg. Vielleicht ein bisschen leidenschaftlicher, bissiger, direkter. Aber höchstens ein bisschen.
Dass es nicht mehr so ist, wie es war, zeigt sich erst im vierten Drittel. Unten im Kabinengang nach der Partie. Die Spieler reden zwar so, wie sie immer nach dem ersten Spiel unter einem neuen Trainer reden. Aber der neue Trainer nicht.
Marc Crawford ist der beste Verkäufer seiner selbst unter den 14 Trainern der Liga. Noch eine Spur forscher als Zugs Dan Tangnes. Eigentlich ist es der beste Marc Crawford, den es je gab. Der 61-jährige Kanadier hat Charisma. Kein Wunder: Er ist seit über 20 Jahren im ganz grossen Trainer-Geschäft und hat viel erlebt, viel gefeiert: Stanley-Cup-Sieger, NHL-Coach des Jahres, Meister mit den ZSC Lions (2014), oft dramatisch verloren und auch schon für heftige Polemik gesorgt.
Am 4. März 2004 prügelt Vancouvers Todd Bertuzzi Colorados Steve Moore zur Bewusstlosigkeit und zum Karriereende. Erst zehn Jahre später ist der Fall – eines der übelsten Fouls der Geschichte – juristisch aufgearbeitet. Bei Vancouver steht Marc Crawford an der Bande und in der Kritik.
Das ist alles natürlich schon lange, lange her und Crawford hat so viel erlebt, dass er nicht mehr so schnell aus der Ruhe zu bringen ist. Ja, er wirkt jetzt noch charismatischer: Die Balance zwischen Leidenschaft und Selbstironie, Temperament und Humor ist noch besser geworden. Und tatsächlich sagt er nach dem Sieg über Biel, er sei ein bisschen weiser geworden. «In den letzten Jahren war ich ja Assistent und habe in dieser Rolle viel gelernt. Die Spieler kommen mit ihren Anliegen zum Assistenten.» Der Mensch habe einen Mund und zwei Ohren und er habe oft zugehört.
Wer nun Marc Crawford unten im Bauch des neuen Zürcher Hockey-Tempels zuhört, kommt zum Schluss: Er ist in Zürich am Ort seiner Bestimmung angelangt. Die Rückkehr ist für ihn mehr als bloss ein Job. Er sagt, es habe andere Offerten gegeben. Aber für ihn habe Zürich immer Priorität gehabt. Der Job hier sei einer der besten überhaupt. Als klar gewesen sei, dass Rikard Grönborg Ende Saison geht, habe er mit den ZSC Lions verhandelt. Zuerst für nächste Saison. Aber nun sei er jetzt schon da. Obwohl er seiner Frau Winterferien versprochen hatte. Er sei 61 Jahre alt und habe das Privileg, das tun zu dürfen, was er tun wolle. Und nicht das, was er tun müsse. Der Marc Crawford, der nicht mehr nach einer Rückkehr in die NHL strebt wie beim ersten Gastspiel in Zürich, der nun sein zweites Engagement sozusagen als Schlussfeuerwerk seiner Karriere sieht, wird der bessere Marc Crawford sein.
Das 2:1 gegen Biel ist also der Auftakt und sagt noch wenig über das, was nun kommen wird. Marc Crawford spricht viel über die Energie im neuen Hockeytempel. Eine Energie, die auch die Spieler erfassen werde. Er ist der Elektriker, der diese Energie in die Kabine und aufs Eis umzuleiten hat.
Zweifelsfrei werden die ZSC Lions schon in naher Zukunft dynamischer, bissiger, intensiver spielen. Der neue Trainer ist beeindruckt von der Kadertiefe, von der Qualität der Mannschaft über vier Linien. Zweifelsfrei werden die ZSC Lions schon in naher Zukunft die Wechselkadenz erhöhen und schneller spielen. Und Marc Crawford spricht vom Willen der Spieler zur Wiedergutmachung: «Sie fühlen sich mitschuldig am Scheitern von Rikard Grönborg.»
Neuer Trainer, neues Glück: Ob die ZSC Lions erstmals seit 2018 wieder Meister werden, ist offen. Es ist auch noch nicht sicher, ob sie am Mittwoch den SC Bern bodigen werden. Sicher ist nur: Sie werden mit Marc Crawford besseres, wilderes, dynamischeres Hockey zelebrieren. Die Unterhaltung wird mit Sicherheit viel besser. So soll es ja sein: Die ZSC Lions sind auch ein Unternehmen der Stadtzürcher Unterhaltungsindustrie.
Mir persönlich war Grönborg alles andere als sympathisch, er wirkte auf mich wie ein grantiger, sturer und überaus selbstbewusster Taktik-Freak, der sich nicht eingestehen konnte, wenn seine Taktik nicht aufging.
Vielleicht ist ein wenig ruppigeres, wilderes nordamerikanisches Hockey keine schlechte Idee?