Welch eine Nacht der Gaukler! Gaukler ist ein Sammelwort für Unterhaltungskünstler, die ihre Fertigkeiten auf offener Strasse, auf Jahrmärkten, Festen oder in leeren Sporttempeln darbieten. In der vormodernen Zeit meinte man mit dieser Bezeichnung Taschenspieler, Zauberkünstler, Akrobaten, Jongleure, Seiltänzer, Bärenführer, Bauchredner, Feuerschlucker, Harlekine, Quacksalber, Marktschreier oder Kartenleger.
Im 21. Jahrhundert zählen dazu auch besonders talentierte Hockeyspieler, die es verstehen, ihr Publikum auf einer rutschigen Unterlage gegen ein schönes Entgelt aufs vortrefflichste zu unterhalten. So wie bei der Partie SC Bern gegen Fribourg-Gottéron. Was für ein Spektakel! 0:2, 1:4, 2:5, 5:5 und schliesslich durch einen Treffer 119 Sekunden vor Schluss 5:6. Ein Drama. Eine unglückliche Niederlage für den immer noch amtierenden Meister. Oder doch nicht? Drama – ja. Unglücklich – nein.
Nichts ist billiger, als hinterher, wenn wir wissen, wie alles gekommen ist, den Allwissenden zu spielen, zu kritisieren oder gar zu polemisieren. Und doch: Es gibt in dieser Nacht der Gaukler eine Logik. Gottéron zelebriert wieder einmal welsches Champagner-Hockey. Leichtsinnig, leichtfüssig, leichtfertig und defensiv leichtbekleidet. Dem Gegner wird Zeit und Raum für 40 Abschlussversuche offeriert.
Nur einer bürstet gegen das spielerische und taktische Fell: Chris DiDomenico. Seine Spielkameraden sind offensive Glücksspieler und defensive Hasardeure. Er aber kämpft. Leidenschaftlich, unermüdlich, ausdauernd, unbeirrbar, hartnäckig, unbeugsam, unablässig, resolut, mutig und ohne zu wanken. Er hat beim 1:0 den Stock im Spiel, erzielt das 2:0, ist der Architekt des 3:1und konstruiert den Siegestreffer zum 6:5. Er ist der härteste Mann in dieser Nacht der Gaukler. Regisseur, Antreiber und Leitwolf. Julien Sprunger, wahrlich ein offensiver Zauberkünstler und Taschenspieler, krönt die Arbeit des Kanadiers. Also ist Gottérons Sieg logisch.
Und ebenso logisch ist die siebte SCB-Niederlage aus den letzten acht Spielen. Auf den ersten Blick scheint die Behauptung, der SCB sei die schwächste Mannschaft der höchsten Liga seit dem Abstiegs-Basel von 2008 eine Respektlosigkeit sondergleichen. Die Basler holten damals aus 50 Partien grad mal 16 Punkte und tauchten in der Liga-Qualifikation gegen Biel sieglos in die NLB.
Aber wir müssen, wenn wir der Sache gerecht werden wollen, vorhandenes Geld und Talent mit dem Resultat vergleichen. Mit der Gleichung Talent mal Salär dividiert durch Punkte und daraus die Wurzel der Kritik ziehen.
Basel war damals ein hoffnungsloser, von der Stadt und dem Publikum vergessener Haufen tapferer, desillusionierter Desperados. Als Goalie Reto Schürch einmal den später gefeuerten Trainer Mike McParland fragte, wer am nächsten Tag im Tor stehe – er oder Olivier Gigon – bekam er zur Antwort: «Ach, werft einfach eine Münze.»
Soweit sind wir beim SCB natürlich noch nicht. Die Mannschaftsaufstellung wird nicht per Münzenwurf gemacht. Nein, es wird seriös gearbeitet. Aber eben: erstens sind die Berner Titelverteidiger und zweitens ist die Mannschaft eine der teuersten der Liga. Ramon Untersander, Tristan Scherwey, Simon Moser und Eric Blum sind WM-Silberhelden. Vincent Praplan, Calle Andersson und Dustin Jeffrey gehören zu den bestsalarierten Stars der Liga.
Es ist wahrlich keine billige Polemik zu behaupten, dass ein letzter Platz mit diesen Spielern schmachvoller ist als die 16 Punkte der Basler im Frühjahr 2008.
Aber es wäre eine unerhörte Respektlosigkeit und allerbilligste, ja beleidigende Polemik, nun die Spieler zu kritisieren. Sie kämpfen. Sie sind leidenschaftlich bei der Sache und die Spielerbank lebt. Auch gegen Gottéron haben sie nie aufgegeben. Sie mahnten in der Nacht der Gaukler an tapfere und ein wenig traurige Hockey-Prinzen.
Wie kann es dann sein, dass der Meister auf den letzten Platz (!) abgestürzt ist und das zweitschlechteste Powerplay der Liga daddelt? Ganz einfach: noch nie seit Einführung der Playoffs (1986) ist so viel Talent und so viel Hockey-Geld so miserabel gemanagt worden.
Bis zum Schluss nie aufgegeben 💪🏻🔥 Leider keine Punkte gegen @FrGotteron im Zähringer-Derby. pic.twitter.com/II19yXdYoZ
— SC Bern (@scbern_news) January 28, 2021
Seit bald sechs Monaten ist die Mannschaft ohne jede Führung. Erst der kanadisch-österreichische Operetten-Bandengeneral Don Nachbaur und nun der fröhliche und freundliche österreichische Junioren-Trainer Mario Kogler. Das ist – nach dem grossen Kari Jalonen – ungefähr so, wie wenn unsere Armee einst von Alfred Rasser und Josef Schweijk statt von General Henri Guisan geführt worden wäre.
Auch talentierte, willige Spieler bedürfen der täglichen Übung und unablässigen taktischen Schulung. So nimmt es nicht Wunder, dass die Laufwege der SCB-Spieler für den Laien verwirrend sind wie die Schnittmuster aus Meyers Modenblatt. Offensiv ist das kreativ, unberechenbar und spektakulär. Defensiv hingegen verhängnisvoll. Da kann Torhüter Philip Wüthrich kein Vorwurf gemacht werden, dass er hinter dieser «Strickmuster-Verteidigung» nicht weiss, wie er im Tor seine Paraden häkeln soll und auf eine Fangquote von 75 Prozent kommt. Und wer mag die tapfere Mannschaft einer Hockeyfirma kritisieren, die bald gleich viele Sportchefs sechsstellig löhnt wie ausländische Feldspieler?
Es wäre nur fair, wenn SCB-König Marc Lüthi bei der Abo-Rechnung für die nächste Saison zwei Felder anfügt. Damit die zahlenden Kundinnen und Kunden ankreuzen können, ob ihr Geld in die Mannschaft oder in die höfische Gesellschaft des SCB-Monarchen investiert werden soll.
Wenigstens ist die Unterhaltung grandios. Und noch etwas passt zu dieser Hockey-Nacht der Gaukler. Um die Mittagszeit hat Zugs Raphael Diaz endlich offiziell bestätigt, dass er nächste Saison für Gottéron verteidigen wird.
Kennen sie «Le Roselet»? Es ist ein wunderschöner Ort in den Freibergen. Weit geht von hier aus der Blick über die sanfte ein wenig melancholische Landschaft des Juras. «Le Roselet» ist eine ganz besondere, über eine Stiftung finanzierte Pferdestation. Rund 60 Rösser, Ponys und Esel dürfen hier artgerecht in einer wunderbaren Umgebung und bei bester Pflege nach einem arbeitsreichen Dasein ihren Lebensabend verbringen.
Gottéron, wie wir es in dieser Nacht der Gaukler in Bern erlebt haben – und das ist ja eigentlich das wahre Gottéron – wird für Raphael Diaz (35) der perfekte Klub, das «Le Roselet des Hockeys», um den Spätherbst seiner fabelhaften Karriere zu verbringen.
Auch der zweifache WM-Silberheld ist im guten Sinne ein spielerischer Gaukler. Einer der elegantesten, smartesten und mit der Scheibe besten Verteidiger der letzten 30 Jahre. Sozusagen eine zephirische Version von Roman Josi. Zephyr ist eine Windgottheit aus der griechischen Mythologie, die den sanften, milden Westwind verkörpert, der keine Bäume knickt, keine Häuser abdeckt und allen wohltut.
Ach, wie wird Raphael Diaz die Darbietungen der Gaukler zu Gottéron mit seiner Kunst bereichern! Und nur das zählt. Niemand wird mehr von ihm erwarten, dass er irgendetwas gewinnt. Kunst, Spektakel, ein bisschen garniert mit Drama war, ist und bleibt weiterhin bei Gottéron wichtiger als meisterlicher Ruhm.
Es wird Raphael Diaz also nichts ausmachen, dass er mit Gottéron nicht Meister wird.
Wohl kaum