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Im Grossen und Ganzen sind wir Weltmeister – aber noch nicht im Kleinen

epa09963546 Swiss players celebrate after winning the IIHF Ice Hockey World Championship group A preliminary round match between Switzerland and Canada in Helsinki, Finland, 21 May 2022. EPA/PETER SCH ...
Die Schweizer Hockey-Nati nach dem grossartigen Sieg gegen Kanada.Bild: keystone
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Im Grossen und Ganzen sind wir Weltmeister – aber noch nicht im Kleinen

Die Schweizer besiegen in einem der spektakulärsten WM-Spiele der letzten Jahre Titelverteidiger Kanada 6:3 mit einem «Rekord-Tor» von Timo Meier. Das weckt ganz grosse Hoffnungen.
21.05.2022, 19:2722.05.2022, 13:44
klaus zaugg, helsinki
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Siege gegen die Grossen – und dazu zählt ja Weltmeister Kanada – hatten in den letzten Jahren ein ähnliches Grundmuster: Die Hockey-Götter waren mit uns. Wir kassierten kaum Strafen und die Torhüter hexten. Kurzum: Wir spielten unser bestes Hockey. Hockey im Sonntagsanzug inklusive Krawatte und Boschettli.

Und nun ein grosser Sieg gegen den Weltmeister im Werktagskleid und lange Zeit ohne Krawatte und Boschettli.

Leonardo Genoni war anfänglich gewöhnlicher Goalie. So in der Art, wie wir dann wohl nach seinem Rücktritt Torhüter bei der WM haben werden. Strafen kassierten wir zumindest im ersten Drittel zu viele. Eine Fünfminutenstrafe schon in der 4. Minute. Weil Timo Meier im Übermut Zach Whitecloud in die Bande genietet hatte. Und Glück hatten wir keineswegs im Übermass. Kommt dazu: Ein Tor von Nico Hischier (zum 1:0) wird zu Recht annulliert. Er hatte die Scheibe beim Goalie wieder hervorgestochert.

Unter all diesen Voraussetzungen haben die Schweizer bei einem Titelturnier einen Grossen noch nie bezwungen. Mit so viel Wenn und Aber in der Startphase reichte es in der Vergangenheit lediglich gegen Italien, Frankreich oder Kasachstan dann noch zum Sieg.

Die Highlights der Partie.Video: YouTube/IIHF Worlds 2022

Warum sind die Kanadier doch besiegt worden? Und zwar richtig besiegt: So frustriert waren sie nach einer Niederlage gegen uns noch selten. Warum fanden die Schweizer und nicht der Weltmeister nach einem wilden ersten Drittel den Weg zum Sieg?

Was machte also die Differenz? Der Mut, das Selbstvertrauen und die spielerische Klasse der Schweizer.

Dreimal hintereinander einen Rückstand gegen die Kanadier subito ausgleichen, auch ein Tor in Überzahl wegstecken (zum 1:2) – das geht nur mit «unzerstörbarem» Selbstvertrauen. Die raue Spielweise der Kanadier aushalten und mit gleicher Münze heimzahlen – dafür braucht es Mut. Und sechs Tore gelingen nur mit spielerischer Klasse.

Captain Nico Hischier war der beste, kompletteste, smarteste Spieler auf dem Eis. Einfädler und Vollstrecker mit einem Tor und einem Assist. Ein Leitwolf mit Weltklasseformat. Bescheiden, wie es seine Art ist, sagt er nach dem Spiel: «Nicht meine Leistung zählt. Das Resultat ist wichtig.» Und spricht dann auf die Frage nach den Gründen für den starken Auftritt der Schweizer einen bemerkenswerten Satz mit bemerkenswerter Selbstverständlichkeit: «Wir sind auch ein starkes Team.» Es ist das gesunde neue Selbstverständnis der neuen Spielergeneration.

Auch der äussere Rahmen war speziell. In einem solchen Tollhaus haben die Schweizer seit drei Jahren nicht mehr gespielt: Die Arena war mit 5'676 Fans ausverkauft – und mindestens 90 Prozent waren aus der Schweiz angereist. Ein tolles Spiel, ein rauschendes Hockeyfest, und Captain Nico Hischier sagte: «Die Fans haben uns viel Energie gegeben.»

In einem gewissen Sinne nehmen die Schweizer mit ihrem präzisen Tempospiel in lichten Momenten den Platz der vom Turnier ausgeschlossenen Russen ein. Die Schweden und Finnen sind ja mehr auf Schablonen-Hockey spezialisiert. Die Schweizer zelebrieren phasenweise das spektakulärste, attraktivste Hockey dieser WM – wie früher die Russen.

Die Automatismen funktionieren: Gegen Kanada braucht es mehr als taktische Hosenknöpfe, um einen Fünfminutenausschluss zu überstehen. Kanadas Cheftrainer Claude Julien sagte nach dem Spiel, das Versagen in diesem Fünfminuten-Powerplay habe sein Team verunsichert. «Solche Spiele können auch die Augen öffnen und wir müssen die Lehren daraus ziehen.»

Jonas Siegenthaler from Switzerland, right, celebrates with the team after scoring his side's third goal during the group A Hockey World Championship match between Canada and Switzerland in Helsi ...
Jonas Siegenthaler (auf dem Eis) ist einer von drei Schweizer Verteidigern, die heute getroffen haben.Bild: keystone

Was bei den Schweizern auch beeindruckte: Sechs verschiedene Torschützen – drei Treffer durch Verteidiger, drei durch Stürmer – sind ein Zeichen für die wohl grösste offensive Ausgeglichenheit, die wir je bei einer WM hatten. Und für eine gute Balance zwischen Pausenplatz- und Schablonen-Hockey.

Werden wir nun also Weltmeister? Im Grossen und Ganzen dürfen wir sagen: Ja, das ist nun möglich. Aber wir sind noch nicht Weltmeister, nicht im Kleinen: Was jetzt noch fehlt, ist der Feinschliff. Die Justierung des Spiels. Es braucht dazu nicht mehr den grossen Universalschraubenschlüssel. Die Nagelfeile reicht. Wenn Leonardo Genoni entscheidet, Weltmeister zu werden – so, wie er nach dem ersten Drittel entschieden hat, das Spiel gegen die Kanadier zu gewinnen und keinen Treffer mehr zugelassen hat, und so, wie er im Final gegen die ZSC Lions entschieden hat, nun alle vier Partien zu gewinnen –, dann werden wir Weltmeister.

Am Ende läuft es auch auf die Frage hinaus, ob Patrick Fischer seine Jungs so im Griff hat, dass sich keiner mehr eine Disziplinlosigkeit oder eine taktische Unaufmerksamkeit leistet wie jene, die gegen die Kanadier in Überzahl zum 1:2 geführt hat. Den Schweizern bleiben zwei weitere Gruppenspiele gegen Frankreich (Sonntag, 19.20 Uhr) und Deutschland (Dienstag, 11.20 Uhr), um weiter an den Details zu feilen. Damit wir dann auch im Kleinen parat sind, Weltmeister zu werden.

Dass es gelungen ist, das wilde Spektakel im zweiten Drittel zu beruhigen, die Fehlerquote zu senken, keinen Treffer mehr zuzulassen und doch drei Tore zu erzielen, ist ein gutes Zeichen für den Einfluss des Coaches.

Zur Feier des Tages passt, dass Andres Ambühl in seinem 120. WM-Spiel (er ist nun Rekordhalter) beim statistischen Siegestreffer (beim 4:3) von Nico Hischier auf dem Eis war. Und die Krönung war der «Rekord-Treffer» von Timo Meier. Er trifft von hinter der eigenen Torlinie aus (!) ins leere kanadische Netz zum 6:3. Sozusagen ein «Hole-in-one» in der Golfsprache.

Switzerland's Andres Ambuehl, world record holder with 120 World Championship games, left, and IIHF president Canadien Luc Tardif, center, before the Ice Hockey World Championship group A prelimi ...
Andres Ambühl wird bereits vor seinem 120. Länderspiel geehrt.Bild: keystone

Nun mag ein Treffer ins leere gegnerische Tor auf den ersten Blick eine einfache Sache sein. Aber von hinter dem eigenen Tor aus auf eine Entfernung von gut 60 Metern zu treffen und den Puck so scharf zu schiessen, dass kein gegnerischer Spieler ihn mehr einholen kann – das ist eben schon ein Kunststück. Timo Meier überlegt eine Weile und sagt dann, er könne sich tatsächlich nicht erinnern, je so einen Treffer erzielt zu haben. «Vielleicht im Training.» Und bringt es auf den Punkt: «Hauptsache, der Puck war drin…»

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35 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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josoko
21.05.2022 20:28registriert Januar 2021
Ein Spieler kriegt meiner Meinung nach viel zu wenig Wertschätzung in all diesen Artikeln: Pius Suter. Ist schon jemandem aufgefallen, dass er in diesem Spiel 2 weitere Punkte gesammelt hat und nach Spielende auf Platz 6 der Skorerliste geklettert ist?
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mstuedel
21.05.2022 20:01registriert Februar 2019
Wer gegen die hockeyverrückten Kanadier mit so viel Selbstvertrauen und Klasse auftreten kann, hat es tatsächlich in der Hand (oder am Schläger), Weltmeister zu werden. Träumen erlaubt. Allerdings erträgt es keinen Durchhänger, und speziell die Partie gegen Deutschland ist trotz psychologisch wichtig, haben die Schweizer Eishockeyer doch traditionell Mühe mit unserem grossen Nachbarn, man denke an den letzten WM Viertelfinal in Riga.
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Liebu
21.05.2022 20:02registriert Oktober 2020
Was diese Nati alles an Tiefschlägen wegsteckte, zeugt von enormem Charakter der Spieler.
Die Kanadie konnten keine der diversen Offerten die das Spiel ihnen gab nicht nutzen und bissen sich an den zähen leidenschaftlichen Schweizern die Zähne aus.
Was mich am Meisten beeindruckte war, dass die Schweizer die Kanadier nicht mehr ins Spiel zurück liessen und die Kanadier selber keinen Weg dazu fanden.
Es ist wieder nur ein Sieg. Aber wie er zu Stande kam hat mich beeindruckt.
Mir macht die Nati Freude.
Hopp Schwitz🇨🇭
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