Prognosen sind schwierig. Vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen. Wir haben den SCB diese Saison noch einmal ganz vorne und Servette ganz hinten in der Tabelle erwartet. Servette wird im Januar 2020 um die Tabellenführung und der SCB um den letzten Playoff-Platz ringen? Das schien unmöglich, ja geradezu absurd.
Und jetzt, im Blick zurück hat alles seine Logik. Servette ist die Revolution geglückt. Revolution? Ja, es ist eine Revolution. Mit einer Besonderheit: In der Regel müssen bei einem Umbruch der Chef und meist auch der Sportdirektor von Bord. «House Cleaning» nennen die Nordamerikaner diesen Prozess. Alle müssen gehen, die in der Sportabteilung etwas zu sagen hatten. So wie in Davos. Die mehr als 20 Jahre dauernde «Ära Arno Del Curto» ist bereits vorbei und vergessen. Der HCD steht ein gutes Jahr nach dem Abgang seines Kulttrainers und den Playouts schon wieder in der Spitzengruppe der Liga. Mit einem neuen Trainer, neuen Assistenten und einem neuen Sportdirektor.
In Genf hatte Chris McSorley (58) eine noch stärkere Position als Arno Del Curto (63) in Davos. Neben allen Cheffunktionen im Sportbereich hatte er – anders als Arno Del Curto – auch den Tresor-Schlüssel im Sack und war Mitbesitzer des Klubs. Ein Neuanfang bei Servette, aber mit Chris McSorley? Unmöglich. Aber das Unmögliche ist aus drei Gründen doch möglich geworden: Mit einem Vertrag bis 2024 ist Chris McSorley anders als Arno Del Curto alleine aus finanziellen Gründen unentlassbar (Arno Del Curto ging sogar freiwillig). Zweitens: Chris McSorley ist tatsächlich fähig, «nur» Sportdirektor zu sein und so hat Servette das Glück, dass seine enorme Hockeykompetenz erhalten bleibt. Drittens: Der Kanadier hatte die Revolution vorbereitet.
Der Bau einer neuen Arena mit entsprechenden wirtschaftlichen Möglichkeiten ist in Genf in absehbarer Zeit nicht möglich. Als mit dem russischen Rohstoffmilliardär Gennadi Timtschenko auch noch der wichtigste Mäzen aussteigt, ist letzte Saison in den lokalen Medien sogar über einen möglichen Konkurs spekuliert worden. Chris McSorley sagt rückblickend, er habe schon vor fünf Jahren geahnt, dass das Geld knapp werden könnte. Schlauerweise hat er seine Anteile am Unternehmen verkauft und im Gegenzug seinen Rentenvertrag bis 2024 mit den neuen Besitzern ausgehandelt. Und nun trägt sein Konzept Früchte: «Wir haben sehr viel in den Nachwuchs investiert, um unsere Zukunft abzusichern. Meine Rechnung ist einfach: Wenn wir sehr gute Torhüter und Ausländer haben, dann ist es möglich, die Mannschaft mit Nachwuchsspielern zu ergänzen und mit einem tieferen Budget zu finanzieren. Die entscheidende Frage war: Würden die Jungen auf Anhieb mithalten können?»
Sie können. Gegen den SCB setzte Trainer Patrick Emond (55) nicht weniger als sieben Spieler ein, die 22 oder jünger sind und damit ein Drittel der Mannschaft ausmachen. Darunter mit Roger Karrer (22), Marco Miranda (21) auch zwei, die von den ZSC Lions geholt worden sind. Alles Spieler, die unter Kari Jalonen beim SCB nicht zum Zuge kämen.
Das grösste Wunder ist allerdings, dass sich der machtbewusste Chris McSorley auf die Position des Sportdirektors zurückgezogen hat, seinem Trainer nicht dreinredet, nicht mehr die Kabine aufsucht und sich auch nicht über die Medien einmischt. Ein solcher Rückzug eines charismatischen Bandengenerals, der mehr als ein Jahrzehnt lang (er kam 2001 nach Genf) alle Macht in Händen gehalten hat, ist äusserst selten. Er erklärt es mit Sinn für Selbstironie so: «Ich habe jetzt den besten Job, den es gibt: Spielen wir gut, rühmen alle die guten Ausländer und die guten Transfers, für die ich verantwortlich bin, spielen wir nicht gut, wird der Coach kritisiert…» Und gut verdiene er ja auch noch.
Die tiefere Wahrheit ist die, dass Chris McSorley gar keine andere Wahl hatte. Die neuen Besitzer – die Rolex-Stiftung – hat seine Absetzung und das Sparprogramm durchgesetzt. Aber dass der Kanadier die Zurückstufung hinnimmt und konstruktiv umsetzt – das ist wahrlich ein Wunder. Er sagt, für ihn sei klar gewesen, dass der Trainer der Elite-Junioren der perfekte Coach für diese verjüngte Mannschaft sei. «Er kennt diese Spieler.» Und so ist Patrick Emond ohne jede Erfahrung mit einer Profimannschaft Cheftrainer geworden. U 20-Nationaltrainer Christian Wohlwend war zwar auch nach Genf gereist, um sich beim Verwaltungsrat vorzustellen. «Aber das hatte keine Bedeutung. Patrick Emond war von allem Anfang an unser Mann und ich hatte das letzte Wort bei der Trainerwahl.» Christian Wohlwend coacht nun den HC Davos. Das ist gut so.
Der Unterschied im Auftreten zwischen dem alten und neuen Servette-Trainer könnte grösser nicht sein. Ein Kritiker hat noch im letzten Herbst fabuliert, Patrick Emond habe weniger Charisma als Chris McSorleys Hauskatze. Nun, das stimmt. Er ist ein freundlicher, bescheidener Mann und spricht mit leiser Stimme. In Bern trägt er sogar noch die Jacke mit dem Logo der Nachwuchsabteilung («die andere ist in der Wäsche»). Aber es ist zu spüren: Dieser Mann ist auf einer Mission. «Wir wussten von allem Anfang an, dass es schwierig sein würde. Als wir kurz vor dem Saisonstart gegen Düsseldorf 0:5 verloren, da kamen bei mir schon einige Bedenken auf. Als wir dann im Cup ohne unsere Ausländer einzusetzen, gegen Saastal 12:0 gewannen, da dachte ich: Okay, versuchen wir es. Uns bleibt so oder so nichts anderes, als einfach Spiel für Spiel zu nehmen. Das war so am Saisonanfang und das bleibt auch jetzt so.» Das Hier und Jetzt, die Gegenwart wird gelebt. Und was ihm auch hilft: Er ist Kanadier und jeder im Klub weiss, dass hinter ihm Chris McSorley steht. Und mit ihm legt sich keiner an.
Chris McSorley sagt, warum die Rechnung aufgegangen ist: «Wir haben das stärkste Torhüter-Duo der Liga. So steht uns in jedem Spiel ein Goalie zur Verfügung, der uns eine Chance gibt, ein Spiel zu gewinnen. Wir haben vier sehr gute Ausländer und die Routiniers und die Jungen kommen miteinander aus.» Die Liga ist so ausgeglichen, dass die Ausländer eine entscheidende Rolle spielen. Zum Vergleich: Bei Servette haben vier ausländische Feldspieler bisher 110 Skorerpunkte produziert. Beim SCB vier bloss 80.
Die Verjüngung ist ein interessanter Faktor: Mit 24,97 Jahren hat Servette die jüngste Mannschaft der Liga und der SCB mit 28,48 Jahren eine der ältesten der Liga. Da die jüngsten von Trainer Kari Jalonen (60) sowieso keine oder kaum Eiszeit erhalten, ist es eigentlich die älteste. Noch vor zwei Jahren lag das Durchschnittsalter bei Servette bei 26,41 und beim SCB bei 28,11. Servette ist also jünger und erfolgreicher, der SCB älter und im Laufe dieser Saison weniger erfolgreich geworden.
Kann sich Servette vorne halten? Chris McSorley macht eine interessante Rechnung auf: «Wir müssten eigentlich dazu in der Lage sein, die jungen Spieler noch etwa fünf Jahre zu halten und in dieser Zeit können wir noch besser werden.»
Und warum ist die Rede von der grossen Hockey-Revolution von 1979? Der SC Bern und Servette mahnen an die NHL-Revolution, die 1979 beginnt: Die Edmonton Oilers und Wayne Gretzky kommen in die NHL und das Jahrzehnt des «Firewagon Hockey» beginnt. 1984 stürzen die Oilers die Dynastie der New York Islanders, die viermal hintereinander den Stanley Cup gewonnen hatten (1980, 1981, 1982, 1983). Nie war die NHL spektakulärer und offensiv produktiver als in den 1980er Jahren und noch heute sind viele der Ansicht, das Spiel sei nie besser gewesen als in diesen Jahren des «Firewagon Hockey». Dieser Einschätzung kann ich nur zustimmen.
Der SC Bern (drei Titel in vier Jahren) mahnt durchaus an diese ruhmreichen Islanders. Und Servette ein wenig an die jungen, wilden Oilers (aber halt ohne einen Spieler wie Wayne Gretzky). Und weil noch nie ein Team aus dem Westen den Stanley Cup geholt hatte, wurden die Oilers anfänglich von den Titanen des Ostens nicht ernst genommen. So wie jetzt bei uns die Teams aus dem Westen niemand so richtig ernst nimmt. Noch nie seit der Einführung der Playoffs (1985/86) ist der Titel weiter westlich als bis Bern vergeben worden.
Die direkte Konfrontation des Hockeys von gestern mit dem Hockey der Gegenwart und von morgen hat zwischen dem SC Bern und Servette noch keine Entscheidung gebracht: Der SCB hat am Freitag in Genf 1:2 verloren und am Samstag in Bern 3:2 gewonnen. Die Playoffs sind immer noch möglich.
Aber die Revolution wird den SCB überrollen. Der Meister versucht die Zeit anzuhalten, verlängert mit den Oldies die Verträge und hat bereits mit Trainer Kari Jalonen bis Ende der nächsten Saison prolongiert. Ein charismatischer Bandengeneral, der auf Taktik und Erfahrung setzt («Schablonen-Hockey») und Tag für Tag nur am Resultat und nicht an einer Weiterentwicklung interessiert ist. Durchaus wie eine finnische Antwort auf Al Arbour, dem Architekten der ruhmreichen New York Islanders. Der SCB, so wie er jetzt aufgestellt worden ist, kann nur noch mit «Antik-Hockey» erfolgreich sein.
Aber nicht nur Servette spielt inzwischen das Eishockey von heute und morgen. Gleich die ersten vier der Tabelle (Zug, Servette, Davos, die ZSC Lions) plus Biel und Ambri tun es und setzen mit jungen, dynamischen Teams konsequent auf gut strukturiertes «Firewagon Hockey». Sie werden den SCB in den nächsten zwei Jahren überrollen.
Die Islanders haben nach der Entthronung von 1984 nie mehr einen Titel geholt. So arg wird es den SCB nicht treffen. Irgendwann wird SCB-General und Mitbesitzer Marc Lüthi merken, dass nicht einmal er die Zeit anzuhalten vermag.
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