Die Mutter aller Transferniederlagen für den SC Bern: WM-Silberheld Leonardo Genoni (30) wechselt Ende Saison für fünf Jahre zum EV Zug. Zum ersten Mal in der Geschichte verlässt ein grosser Torhüter den SC Bern. Die anderen ganz grossen Goalie-Titanen haben ihre Karriere in Bern beendet: René Kiener, Jürg Jäggi, Renato Tosio und Marco Bührer. Wer einmal beim SCB Kultstatus erlangt hat, geht nicht mehr weg.
Aber Leonardo Genoni geht doch. Marc Lüthi sagt erst einmal ein Wort: «Schade». Um dann die Niederlage sportlich zu nehmen. «Wir respektieren diesen Entscheid. Es ist nie ums Geld gegangen. Auch wir hätten ihm einen Fünfjahresvertrag gegeben. Die Familie und der Wunsch, in die Heimat zurückzukehren haben den Ausschlag gegeben.»
Stimmt das? Es ist ja schon aussergewöhnlich, wenn der geschäftstüchtigste Hockeymanager Europas im Hockey-Business bei einer zentralen sportlichen «Jahrhundert-Entscheidung» von Gefühlen spricht. Oder gar naiv? Eine faule Ausrede?
Nein, Marc Lüthi hat recht. Leonardo Genoni ist in Kilchberg aufgewachsen. Sein Vater, der bekannte Herzchirurg Michele Genoni hat dort Grundbesitz. Der Entscheid, nach elf Jahren in der Fremde (Davos, Bern) in die Heimat zurückzukehren und seine Kinder dort einzuschulen, ist nachvollziehbar. Es ist ein Entscheid für die Familie. Und er fällt dem WM-Silberhelden umso leichter, weil er ja sportlich die höchsten Höhen bereits erklommen hat.
Zug und Bern haben ziemlich genau gleich viel geboten. Sowohl was Salär und Vertragsdauer betrifft. Sein Agent Erich Wüthrich hat nicht gepokert und Leonardo Genoni wäre auch dann nicht in Bern geblieben, wenn die SCB-Offerte um einen sechsstelligen Betrag besser gewesen wäre. Leonardo Genoni wird in Zug der bestverdienende Schweizer NLA-Torhüter aller Zeiten sein – aber das war er auch schon beim SCB. Die Lohnerhöhung ist im Vergleich zum SCB-Vertrag gering.
Wird nun Leonardo Genoni beim SCB diese Saison nicht mehr ganz bei der Sache sein? Alleine diese Frage ist eine Beleidigung für den HCD- und SCB-Meistergoalie. Leonardo Genoni ist einer der ehrlichsten und ehrgeizigsten Profis unserer Hockeygeschichte. Gerade deshalb hat er seinen Entscheid vor der Saison gefällt. Damit Ruhe einkehrt. Hätte er mit seiner Zukunftsplanung erst im neuen Jahr begonnen, hätte eine ständige Unruhe einen negativen Einfluss auf sein persönliches Leistungsvermögen haben können. So aber nicht. Wir werden diese Saison den wahren, den besten Leonardo Genoni sehen. Und Marc Lüthi hat nun genügend Zeit, seine Jungs bis zum Saisonstart «gegen Polemik zu impfen» – also dafür zu sorgen, dass das Murren über den Wegzug von Leonardo Genoni im Umfeld intern ignoriert wird.
Und doch erschüttert sein Entscheid das Selbstverständnis der Berner. Wohlverstanden: das Selbstverständnis. Nicht die sportliche Konkurrenzfähigkeit. So faire Transferverlierer Marc Lüthi & Co. auch sind, so sehr sie ihr Verständnis für den Entscheid betonen – tief im Herzen, in ihrer Hockeyseele sind die Berner zutiefst getroffen. Okay, Leonardo Genoni ist Zürcher, er kehrt in die Heimat zurück. Aber Bern ist die Hockey-Hauptstadt des Landes. Der SCB der grösste, charismatischste, beste Hockeyclub im Lande. Die Lebensqualität in Bern ist unübertroffen, die Stimmung im Hockeytempel auch. Den SCB verlassen? Der in der Wolle gefärbte SCBler verzeiht Leonardo Geoni. Aber er wird es bis ans Ende seiner Tage diesen Entscheid nie verstehen.
Aber letztlich gilt: Spieler kommen und gehen, der SCB bleibt bestehen. 2016 hat der SCB seinen bis heute spektakulärsten Titel mit einem ausländischen Torhüter geholt: mit dem Tschechen Jakub Stepanek.
Sportchef Alex Chatelain wird gar nichts anderes übrig bleiben, als Leonardo Genoni in einem Jahr durch einen ausländischen Torhüter zu ersetzen. Es gibt keinen Schweizer, der in Leonardo Genonis Schuhen stehen kann. Es muss ein ausländischer Torhüter sein, der in einer der grossen europäischen Hockeynationen (Schweden, Finnland, Tschechien) Nationaltorhüter ist und bei einer WM schon die Nummer 1 für sein Land war. Ein tüchtiger Sportchef findet diesen Goalie. Der SCB wird auch ohne Leonardo Genoni ein Titan bleiben. Wir können also durchaus sagen: Leonardo Genoni verlässt den SCB – na und?
Der Transfer verändert Zug viel stärker als den SCB. Die Zuger haben es sich in den letzten Jahren auf hohem Niveau in einer Komfortzone bequem gemacht. Der brennende Ehrgeiz, den es braucht, um Meister zu werden, hatten sie seit ihrem einzigen Titel von 1998 nie mehr. Den letzten Meter sind die Spieler seither nie mehr gegangen, den finalen Check haben sie nie mehr gemacht, die letzte Anstrengungen haben sie zu oft gescheut. Deshalb ist der EV Zug zwar ein Hockey-Musterunternehmen geworden. Wirtschaftlich sorgenfrei und mit einer formidablen Infrastruktur. Aber sie sind in den Herzen Verlierer geblieben und der Aufbau einer Nachwuchsakademie ist ihnen in den letzten Jahren gerade recht gekommen. Als Ausrede, man fördere halt die Jungen und man könne Ausbildung und meisterliche Ambitionen nicht kombinieren.
Das alles gilt ab dem nächsten Frühjahr nicht mehr. Wer Leonardo Genoni holt und mit einem Fünfjahresvertrag ausstattet, kann erst zufrieden sein, wenn der Titel gewonnen ist. Die Verpflichtung des besten Schweizer Torhüters ist ein klares Signal. Ans Publikum, an die Werbepartner. Es gibt keinen Weg mehr zurück in die Bequemlichkeit.
Zugs grosse Chance: Leonardo Genoni wird mit seiner kompromisslosen Professionalität Zugs Leistungskultur verändern. Er wird einen viel stärkeren Einfluss auf die Mannschaft haben als der Trainer. Der Fünfjahresvertrag ist kein Risiko. Nicht bei diesem Musterprofi. Er wird so motiviert sein als gehe es jede Woche um eine Vertragsverlängerung.
Der EV Zug hat ab der Saison 2019/20 den grossen Torhüter, den es braucht, um Meisterschaften zu gewinnen. Aber Zug hat noch nicht den grossen Trainer, den es für einen Titelgewinn braucht. Der neue Bandengeneral Dan Tangnes ein Meistertrainer? Der Norweger, der noch nie irgendetwas gewonnen hat? Er hat einen Zweijahresvertrag. Wenn er Ende der ersten Saison mit Leonardo Genoni (2019/20) noch immer Zugs Trainer ist, soll jeder Buchstabe dieser Kolumne ein «Zweifränkler» in der EVZ-Mannschaftskasse sein.