Leonardo Genoni wechselt im Frühjahr 2019 mit einem Fünfjahresvertrag zum EV Zug. Den Schwefelgeruch dieser Transferniederlage bringt SCB-Sportchef Alex Chatelain erst einmal nicht mehr aus den Kleidern. Für das gesamte Berner Umfeld kann es natürlich in diesen schweren Tagen nach dem Transfer-Schock nicht sein, dass es keinen Sündenbock gibt. Dass der Zorn nicht über dem Haupt eines SCB-Bürogenerals abgeladen werden kann.
Aber wie wir es auch drehen und wenden – es gibt keinen Sündenbock. Leonardo Genoni kehrt im nächsten Frühjahr in seine Heimat zurück. Davon war er weder mit Geld noch mit guten Worten abzuhalten. So gerne ich gegen Marc Lüthi oder Alex Chatelain polemisieren würde – es gibt, leider, nichts zu polemisieren.
Die Reaktionen auf den «Fall Genoni» zeigen: Die Berner überschätzen die Bedeutung Genonis sowieso bei weitem. Der SCB ist bloss der erste Titan, der mit der neuen, noch verdrängten Wirklichkeit unseres Hockeys konfrontiert wird: Wir haben keine grossen Torhüter mehr.
Seit den 1960er Jahren prägen helvetische Kulttorhüter die SCB-Geschichte: René Kiener, Jürg Jäggi, Renato Tosio, Marco Bührer und Leonardo Genoni. Jeder von ihnen hat mindestens einen Titel geholt. Doch in den nächsten 15 Jahren wird es in Bern keinen meisterlichen Goalie mit Schweizer Pass geben.
Alle Namen, die jetzt genannt werden, sind eine Nummer zu klein, um in Bern der letzte Mann zu sein. Ein grosses Hockeyunternehmen wie der SC Bern kann sich keinen «kleinen» Torhüter leisten. Der SCB mit Melvin Nyffeler, Gilles Senn, Luca Boltshauser, Tobias Stephan oder Robert Mayer? Das ist wie Gérard Scheidegger als SCB-Manager, Erich Hess als Bundesrat, Jimy Hofer als Stadtpräsident oder Beatrice Egli als Brünnhilde bei den Wagner-Festspielen in Bayreuth. Es geht einfach nicht. Mit einem gewöhnlichen Torhüter würde der SC Bern zu einem gewöhnlichen Sportunternehmen.
Wir können es noch an einem Beispiel erklären. Nehmen wir mal an, Melvin Nyffeler (vor dessen Leistungen ich mich verneige) kommt als Genoni-Nachfolger nach Bern. Wenn er im Oktober 2019 gegen Langnau ein haltbares Tor kassiert, wird ein Sturm der Entrüstung durch den Hockey-Tempel und über die Stadt bis hinauf zum Gurten brausen. So ein Lottergoalie! Den Puck hätte ja unsere Madame de Meuron noch im Alter von 90 Jahren mit dem Hörrohr abgewehrt. Wer in den Playoffs gut sein will, muss schon im Herbst parat sein! Wir sind verloren! Nieder mit dem Sportchef!
Kommt aber ein grosser ausländischer Torhüter, sagen wir mal (einfach um ein Beispiel zu geben) Schwedens Anders Nilsson (sein Vertrag über zwei Millionen Dollar läuft Ende Saison in Vancouver aus) und er kassiert gegen Langnau in SCB-Überzahl ein Tor aus 35 Metern, dann werden die SCB-Auguren anerkennend nicken und mit bedeutungsschwerer Miene sagen: Wahrlich ein grosser Goalie! Der weiss, dass im Herbst noch keine Titel gewonnen werden. Was kümmert uns ein herbstliches Gegentor gegen die «Chäsigen»? Ganz und gar nicht. Wir gönnen ihnen die kleine Freude gerne. Und überhaupt: Nilsson ist von der Stadionbeleuchtung geblendet worden und man hätte ja den Torschützen bei der Schussabgabe stören können. Der Treffer geht auf das Konto der Vorderleute. Hoch lebe der Sportchef!
Oder noch anders gesagt: Jeder Schweizer Torhüter wird direkt mit Leonardo Genoni verglichen und hat gar keine Chance. Nur ein ausländischer Goalie entgeht diesem Direktvergleich. Tja, so ist das mit der Hockey-Psychologie der Berner. Sie lässt sich in einem Satz zusammenfassen: «Wir haben einen grossen Torhüter, also sind wir.»
Alles kein Problem. Der SCB wird in der «Post-Genoni-Ära» zum ersten Mal in seiner Geschichte von Saisonanfang an auf einen ausländischen Torhüter vertrauen. 2016 ist der SCB bereits mit Jakub Stepanek Meister geworden. Aber der tschechische Nationaltorhüter kam erst im Laufe der Saison als Ersatz für den blessierten Marco Bührer.
Ich glaube nicht, dass die grössten Talente der neuen Generation – Akira Schmid (Lethbridge), Stéphane Charlin (Servette) oder Luca Hollenstein (Zug), alle mit Jahrgang 2000 – gut genug sind, um dereinst in Bern die Verantwortung der Nummer 1 zu schultern. In sechs Jahren wird es sowieso nur noch möglich sein, unsere Meisterschaft mit einem ausländischen Torhüter zu gewinnen. Der SC Bern wird dann gegenüber den anderen Titanen einen mehrjährigen Erfahrungsvorsprung in der Rekrutierung von ausländischem Goalie-Personal haben.
Alex Chatelain hat nun ein Jahr lang Zeit, Berns Antwort auf Ari Sulander zu finden. Versagt er bei dieser Aufgabe, wird er seinen Job los sein bzw. wird er von Marc Lüthi intern auf einen anderen Posten versetzt. Der SCB-Sportchef hat mehr als 300 Tage lang Zeit, die Kandidaten im Stadion zu beobachten. Sich bei Scouts, Trainern, Managern, Spieleratern, Chronisten, Wahrsagern, Psychologen und Graphologen zu erkundigen. Mit den möglichen Genoni-Nachfolgern Gespräche zu führen.
Der SCB-Sportchef kann sich bei der Regelung der Genoni-Nachfolge keinen Fehler leisten. Der SC Bern braucht den besten Torhüter ausserhalb der NHL.