Was ist Magie? Wenn an einem kalten Dienstagabend 5905 Männer, Frauen und Kinder nach Ambri reisen, um Langnau, dem Zweitletzten und Meister von 1976, die Aufwartung zu machen. Während sich zur gleichen Zeit unten im Flachland in Rapperswil-Jona lediglich 3583 Unentwegte einfinden, um die mächtigen ZSC Lions, zuletzt Meister 2000, 2001, 2008, 2012, 2014 und 2018, zu sehen.
Ambri, noch nie Meister, müht sich auf dem 10. Platz. Die Rapperswil-Jona Lakers, auch noch nie Meister, zelebrieren eines der besten Jahre ihrer Geschichte und stehen auf Rang 2. Logisch wäre also: 3582 in Ambri, 5905 in Rapperswil-Jona. Wir sehen: Der Hockeyfan lebt nicht vom Ruhm und Resultat allein. Eishockey muss das Herz, die Seele berühren. Wie in Ambri.
Der Zufall will es, dass beide Partien mit dem gleichen Resultat enden: Die Lakers besiegen die Zürcher 6:5. Ambri verliert gegen Langnau 5:6. Der Sieg der Lakers hat eine gewisse Logik: Sie geraten nie in Rückstand und zittern nur in den letzten zweieinhalb Minuten. Ambris Niederlage hat keine Logik. Die Tessiner taumeln nach einer 2:0-Führung in einen 2:6 Rückstand und hätten um ein Haar noch zum 6:6 ausgeglichen.
Nach dem Spiel dauert es eine gute halbe Stunde, bis Luca Cereda in den Kabinengang tritt und Red und Antwort steht. Nur ganz wenige Cheftrainer strahlen eine so ruhige, natürliche Autorität aus wie der ehemalige NHL-Erstrundendraft. Eine Herzoperation beendete einst den Traum von einer grossen Karriere in Amerika und doch geht er seinen Weg. Stürmte für Ambri, den SC Bern (Meister 2004) und für die Nationalmannschaft. Seit 2017 steht er in Ambri an der Bande. Ein Sohn der Leventina.
Luca Cereda verliert nie seine Souveränität. Er kritisiert nie einzelne Spieler. Er stellt sich vor seine Mannschaft und wirkt doch nie so, als suche er nach Ausreden. Es sei ein schwieriger Abend gewesen. Für alle. «Für das Publikum, für die Spieler, für die Torhüter, für die Trainer.»
Auf die Frage, ob denn nicht Ambris so wechselvolle Geschichte in diesem einen Spiel erzählt worden sei, sozusagen 84 Jahre an einem Abend, stimmt er zu. «Der Tag mag noch so anstrengend gewesen sein – am nächsten Morgen muss der Bauer in diesem Tal doch wieder früh aufstehen und seiner schweren Arbeit nachgehen.» Das gelte auch für seine Mannschaft. «Deshalb sind wir im letzten Drittel noch einmal aufgestanden.» Ambris Magie lebt, trotz sieben Niederlagen in den letzten acht Spielen. Der Geist der Valascia. «Ja, ja», sagt Luca Cereda. «Aber am Ende sind wir mit leeren Händen dagestanden.»
Luca Cereda kritisiert nicht seine Torhüter (was berechtigt gewesen wäre), thematisiert nicht seine Ausländer, die bisher in dieser Saison 15 Tore erzielt haben (jene der Langnauer hingegen 57), hadert nicht mit den Schiedsrichtern oder den Hockeygöttern. Es geht ihm um mehr. Diese Partie war wichtig.
Mit einem Sieg hätte sich Ambri im Ringen um den letzten Pre-Playoffplatz (10.) etwas Luft verschaffen und Langnau distanzieren können. Diese Ausgangslage habe seine Mannschaft verunsichert. «Auch nach dem 2:0 war diese Unsicherheit zu spüren. Im ganzen Stadion. Dass wir den Mut, den Stolz verlieren, ist einfach nicht unsere Art.» Aber Ambri hat ja auch nach dem 2:6 den Mut nicht verloren und ist wieder aufgestanden. «Ja. Aber am Ende sind wir eben doch mit leeren Händen dagestanden.»
Das stimmt nicht ganz. Luca Cereda hat recht: Die Unsicherheit war zu spüren. Als ob das Publikum ahnte, dass es ein Drama werden würde. Die Energie fehlte in der Arena – auf den Rängen, auf dem Eis. Vielleicht war es die dunkle, kalte Dezembernacht. Aber vielleicht gehört diese leise Resignation eben auch zur Magie von Ambri. Und am Ende wissen wir, warum 5905 gekommen sind (und nicht bloss 3583 wie in Rapperswil-Jona): Ambri ist wieder aufgestanden. Nach einem 2:6.
Eine Mannschaft, die ausser Rand und Band geraten war, schliesst in den letzten 20 Minuten ihre Reihen. Allein diese schier wundersame Auferstehung zu erleben, war die lange Reise und den Matchbesuch wert. Die Energie war zurück, die Leidenschaft flammte endlich, endlich auf. Im Publikum. Auf dem Eis. Ambri spielte sich nicht in einen Rausch. Nach wie vor passte vieles nicht zusammen. Aber Ambri raffte sich im letzten Drittel auf. Wie unzählige Male seit der Gründung im Jahre 1937. Taumelte, stolperte und blieb doch stehen. Getrieben vom Mut der Verzweiflung. Und kam der Wende ganz, ganz nahe. Noch in der letzten Minute muss Robert Mayer hexen, um das 6:6 zu verhindern.
Das ist Ambris Magie: Luca Cereda und seine Spieler haben allen Widrigkeiten zum Trotz nicht aufgegeben, in einer schier ausweglosen Lage nicht kapituliert, sie haben eine sich abzeichnende schmähliche Niederlage in ein Drama verwandelt. Deshalb werden alle, die dabei waren, die lange Reise hinauf nach Ambri wieder machen. Wo sonst kann man denn an einem Abend 84 Jahre Klubgeschichte erleben? Deshalb sind diese Saison im Schnitt zu jedem Spiel 6092 in die abgelegenste Arena Europas gekommen. Mehr als in Lausanne, Lugano, Biel, Genf, Langnau, Davos, Rapperswil-Jona und Pruntrut.
Ambri hat gegen Langnau wieder ein Spiel verloren. Aber erneut die Herzen und Seelen der Fans gewonnen.
Wenn wir nur die jeweils höchsten Ligen berücksichtigen, sind Davos, Ajoie, Langnau, Kuopio, Lulea, Skelleftea oder diverse Arenen in Italien oder Slowenien in der Alps Hockey League oder in Russland in der KHL (z.B. Tscherepowez) viel abgelegener. Ich schätze, da gibt es in anderen Länder noch ganz andere.
Man kann es mit dem Alpen-Dorfclub-Mythos, der mich ja durchaus auch fasziniert, auch übertreiben.
Und genau deshalb, ganz genau aus diesem Grund werde ich am Freitag in der Curva sud stehen.
Der Gegner (seit mir nicht böse! ) sind nicht die SCL Tigers. Nein. Es ist LugaNO. Das Ultimative. Die Schlachtgesänge laufen mir schon über den Rücken!
Forza Ragazzi! Forza Biancoblu!🤍💙🙏🏻🍀