Reto von Arx (45) blickt hilfesuchend zum Hallendach. Sein zwei Jahre jüngerer Bruder Jan schaut entsetzt aufs Eis. Die berühmtesten Trainer des Amateurhockeys können den Schiffbruch ihres Teams auch nicht verhindern. In nur 158 Sekunden macht Hockey Huttwil gegen Chur im Schlussdrittel aus einem 1:2 ein 4:2 und am Ende verlieren die Bündner 2:6.
Reto und Jan von Arx sind Emmentaler, die 1995 nach Davos zügeln und zu Hockey-Legenden werden. Es braucht schon viel, um als Unterländer beim Rekordmeister diesen Status zu erlangen. Im Frühjahr 2015 haben beide den perfekten Zeitpunkt zum Rücktritt gewählt: Sie beenden ihre Karriere nach dem 6. Titelgewinn am 11. April 2015 im Zürcher Hallenstadion. Reto von Arx erzielt in seiner letzten Partie für den HCD (2:0) erst noch das Tor (1:0), das dem HCD den bisher letzten Titel bringt.
Beide sind in Davos heimisch geworden und auch die Eltern sind nach Davos gezogen. Beide sind dem Hockey treu geblieben. Als Trainer. Wie es sich gehört, haben sie erst einmal auf Junioren-Stufe die Grundlagen dieses Handwerkes erlernt. Bis auf eine kurze Episode von Reto von Arx als Assistent von Patrick Fischer bei der WM 2016 in Moskau ist der EHC Chur für beide der erste Trainerjob im Erwachsenen-Hockey. Hier sind sie seit dem Herbst das ungewöhnlichste Trainer-Gespann unseres Hockeys. Das Engagement gilt vorerst bis Ende Saison.
Chur hat also gleich zwei berühmte Cheftrainer. Auf die Frage, wer denn Chef sei, sagt Reto von Arx in der ihm eigenen coolen Art: «Keiner. Wir machen das gemeinsam. Bezeichnen Sie Jan und mich einfach als Co-Trainer.» Das sind keine leeren Worte. Emmentaler respektieren, helfen und unterstützen einander. So wie es seit Jahrhunderten der Brauch ist. Zwei starke, eigenwillige Persönlichkeiten. Aber keiner ist des Anderen Chef. Ein Bruder befiehlt seinem Bruder nicht.
Reto und Jan von Arx als Trainergespann in Chur: Das ist ungefähr so, wie wenn die beiden Emmentaler Dichterfürsten Albert Bitzius («Gotthelf») und Simon Gfeller gemeinsam für den Churer Medienkonzern «Somedia» eine Literatur-Zeitschrift als Chefredaktoren geführt hätten. Aber eben: Auch zwei Titanen an der Bande können Churs Untergang in Huttwil nicht verhindern. So wie wohl auch zwei Kapitäne die Titanic nicht hätten retten können. Wobei: Der Vergleich zwischen Chur und der Titanic ist nur neben, aber nicht auf dem Eis treffend.
Auf dem Eis ist der EHC Chur keine Titanic. Einfach eine junge, willige, fleissige und disziplinierte Mannschaft in der höchsten Amateurliga, die sich redlich müht, wenigstens die Playoffs (8. Platz) zu erreichen. In lichten Momenten wirbeln die Bündner wie ein Spitzenteam. Aber sie haben zu wenig erfahrene Spieler, um in hektischen Momenten das Spiel wieder beruhigen zu können. In Huttwil segeln sie lange auf Siegeskurs und führen nach zwei Dritteln 2:1. Dann kassieren sie bis zur 45. Minute in 158 Sekunden drei Treffer und verlieren 2:6.
Aber weder Reto noch Jan von Arx verlieren ob dem Untergang mit fliegenden Fahnen die Fassung. Ihre Ruhe auf der Bank ist schon fast provozierend. Als der Linienrichter fälschlicherweise auf Offside entscheidet und die Churer um eine hundertprozentige Chance bringt, protestiert Reto von Arx zwar lebhaft. Aber in aller Ruhe hört er sich die Erklärung des Linienrichters an – und dann auch sein Bruder Jan. Grosser Name, ruhmreiche Geschichte hin oder her – die Gebrüder von Arx sind auch auf Amateur-Stufe bescheiden, respektvoll und anständig. Passivität beim Coaching ist den beiden nicht vorzuwerfen.
Jan kümmert sich um die Verteidiger und ums Boxplay, Reto um die Stürmer und das Powerplay. Die grossen strategischen Entscheidungen fällen sie gemeinsam: Schon in der 55. Minute ersetzen sie nach kurzer Besprechung beim Stand von 2:5 den Goalie durch einen 6. Feldspieler. Das Risiko-Spektakel zahlt sich nicht aus. Das 2:6 wird ins verlassene Tor erzielt.
Der EHC Chur, nie Meister und zuletzt 2001/02 in der NLA ist eigentlich kein Team fürs Amateurhockey. Nicht von seiner Geschichte (1933 gegründet), nicht von seinem Selbstverständnis und nicht von den grossen Namen her. Die Churer haben im Flachland unten seit Anbeginn der Zeiten als ewige Nummer drei hinter den Bergclubs Davos und Arosa einen schweren Stand. Fast so wie Skistars aus dem Flachland immer ein wenig im Schatten der Bergler stehen. Chur ist weiterhin hinter Davos (National League) und Arosa die Nummer drei: In der MySports League zittern die Churer auf dem 9. Rang und 5 Punkte hinter Arosa um die Playoffs. Immerhin haben Reto und Jan von Arx diese Saison beide Derbys gegen Arosa gewonnen. 3:1 in Arosa, 2:1 auf eigenem Eis.
Die Geschichte des Churer Hockeys wurde und wird von grossen Namen geschrieben. Zum Beispiel von Renato Tosio, Fausto Mazzoleni, Enzo Corvi, Thomas Vrabec, Nando Eggenberger oder Nino Niederreiter. Aber zu Ruhm und Reichtum sind sie alle erst in der Fremde und nicht in Chur gekommen: Renato Tosio in Bern, Thomas Vrabec in Lugano und Bern, Fausto Mazzoleni und Enzo Corvi in Davos, Nando Eggenberger in Rapperswil-Jona und Nino Niederreiter in Amerika. Es ist eine Ironie der Hockeygeschichte, dass Thomas Domenig (88), Churs wichtigster Präsident aus dem gleichen Familienclan stammt wie Gaudenz Domenig (65), der bedeutendste HCD-Obmann des 21. Jahrhunderts. Thomas ist der Architekt, der das moderne Chur und das Hockey-Stadion entworfen und gebaut hat. Gaudenz in Zürich unten einer der smartesten Wirtschaftsanwälte.
Der EHC Chur hat die Rückkehr ins Profi-Hockey (in die Swiss League) im Kopf. Aber sportlich nur das Amateur-Hockey in den Armen und Beinen. Vorerst sind erst die Namen gross. Reto und Jan von Arx an der Bande. Maurin Tosio (22), der Sohn der Goalie-Legende Renato Tosio (57) auf dem Eis. Tosio junior ist eine flinke Flügelmaus. Und Churs Spieler sind die einzigen in der Schweiz, die den Namen eines berühmten Hockeyspielers, eines NHL-Stars auf dem Helm tragen: Niederreiter steht auf jeder Kopfbedeckung. «Was, diese Aufschrift haben Sie gesehen?» wundert sich Reto von Arx. «Sie steht tatsächlich für Nino Niederreiter.» Ein NHL-Star, der nicht vergessen hat, woher er kommt. Er spielt für die Carolina Hurricanes in Raleigh und gehört als sportlicher Berater und Klub-Botschafter in Chur zum Vorstand.
Chur hat das Aufstiegsgesuch gestellt. Die Infrastruktur stimmt. Die Finanzen wären wohl zu organisieren. Und in enger Zusammenarbeit mit Davos könnte wohl auch das sportliche Fundament für die Swiss League gebaut werden. Aber wer es fertigbringt, dass Chur und Davos eng zusammenarbeiten, dass Davos die Churer gar als Farmteam in der Swiss League alimentiert, wird Kandidat für den Friedens-Nobelpreis. Es gibt sogar wissenschaftliche Studien, die zeigen, dass die Gemeinde-Autonomie nirgendwo auf der Welt so gelebt wird wie im Bündnerland. Bis heute sind alle Versuche einer engen Zusammenarbeit zwischen Chur, Davos und Arosa gescheitert.
Chur mit der aktuellen Mannschaft erstmals seit dem Abstieg von 2008 zurück in die zweithöchste Liga? Keine Chance. Oder wie es Reto von Arx zusammenfasst: «Wir haben noch viele Hausaufgaben zu erledigen.» Auf und neben dem Eis.
Arosa hat eine grosse Vergangenheit (50er und 80er). Danach waren sie für lange Zeit die dritte Kraft im Bündner Eishockey. Für eine kurze Zeit in den 90ern war Chur das best platzierte Bündner Team.