Christian «Volvo» Wohlwend ist sozusagen Raeto Raffainers «Projekt». Zwei Freunde aus dem Engadin erobern die Hockeywelt.
Raeto Raffainer wird Verbands-Sportdirektor und macht den bis dahin weitgehend unbekannten Juniorentrainer zum U20-Nationalcoach und zum Assistenten von Patrick Fischer.
Im Sommer 2019 brechen die beiden zu neuen Ufern auf: Raeto Raffainer wird Sportdirektor in Davos und nimmt seinen Kumpel als Trainer mit. Die beiden meistern die grösstmögliche Herausforderung: den sportlichen Neuaufbau nach der Ära Del Curto.
Sie ergänzen sich perfekt. Wie Yin und Yang, die zwei Begriffe der chinesischen Philosophie für entgegengesetzte Temperamente, die sich gegenseitig komplettieren.
Hier der wilde Feuerkopf Christian Wohlwend, dort der coole Analytiker Raeto Raffainer, der eingreift, wenn es «Volvo» mal wieder mit einer «Arno-Del-Curto-Parodie» übertreibt.
Keiner muckt in der Kabine auf. Jeder weiss: Hinter dem Trainer steht der Sportchef und zwischen die beiden passt kein Löschblatt.
Im Frühjahr 2020 fehlen in der ersten Saison nur drei Punkte zum Qualifikationssieg. Der HCD ist aus dem Tabellenkeller (Playouts gegen die Lakers!) wieder in die Spitzengruppe zurückgekehrt.
Diese Saison hat es in der HCD-Kabine schon mal ordentlich «gchrisaschtet». Aber den Aufstand hat keiner gewagt. Und als der hochdekorierte finnische Leitwolf Perttu Lindgren die Autorität des Trainers doch herausfordert, handelt der Sportchef und tauscht ihn in Biel gegen David Ullström ein. Er setzt beim Trainer das biblische Prinzip aus dem Matthäus-Evangelium um: «Wer nicht mit mir ist, ist wider mich.»
Und dann, von einem Tag auf den anderen, verlässt Raeto Raffainer den HC Davos mitten in der Saison und aus einem laufenden Vertrag. Um in Bern den nächsten Karriere-Schritt zu machen.
Er lässt seinen Freund im Stich. Wer soll nun beim HCD Sportchef werden? Félicien Du Bois? Reto von Arx? Pascal Müller? Sicher ist schon: Chris McSorley kommt nicht.
Kein Polemiker, wer nun fragt: Kann sich Christian Wohlwend ohne die Rückendeckung seines Freundes im Amt halten? Wie stark hängt seine Autorität von einem Chef ab, der ihn durch alle Böden hindurch stützt? Raeto Raffainer sagt: «Das wird kein Problem sein.» Aber darf er etwas anderes sagen?
Und da ist noch etwas: Er nimmt mit Johan Lundskog auch gleich noch den Assistenten mit nach Bern. Der Schwede hat bereits beim SCB für nächste Saison unterschrieben.
«Proximus sum egomet mihi» (Ich bin mir selbst der Nächste) lässt der römische Komödiendichter Terenz einen seiner Protagonisten voll Bitterkeit sagen. Was im alten Rom («Brot und Spiele») recht, das wird doch wohl im modernen Sport billig sein. Wird denn nicht nach Belieben geheuert und gefeuert?
Männerfreundschaft ist im Sport etwas für Romantiker. Oder doch nicht? Was ist mit all den beschwörenden Reden über Kameradschaft, Zusammenhalt und «Team first»? Wie glaubwürdig ist ein Sportdirektor, der seine Spieler, seinen Trainer, seine Mannschaft, seinen Klub ohne Not im Stich lässt?
Das mögen Ansichten eines hoffnungslosen alten Romantikers sein. Niemand wird Raeto Raffainer mit solchen Fragen konfrontieren. Und er darf darauf verweisen, dass er in Davos die Mannschaft für nächste Saison – zumindest die Schweizer Spieler – bereits zusammengestellt hat.
Aber ein feiner Hauch von Verrat umweht ihn von nun an. Es ist boshaft und ich entschuldige mich dafür. Aber der Hockeyteufel in mir fragt: Holt dieser «Verrat» Raeto Raffainer beim SCB eines Tages ein? Wir wollen nicht grübeln.
Die «Engadiner-Bande» mit Geschäftsführer Marc Gianola, Sportdirektor Raeto Raffainer und Trainer Christian Wohlwend gibt es in Davos also nicht mehr. Kommt nun Corsin Camichel für Johan Lundskog und als Verstärkung des Engadiner Elementes?
Raeto Raffainer mag solche Überlegungen nicht. «Es geht nicht darum, woher einer kommt, oder um Freundschaften. Bei der Zusammenstellung geht es um Funktionen und die Wahl der richtigen Leute für diese Funktionen. In dieser Beziehung sind uns etwa die Schweden weit voraus.»
Wer mag ihm widersprechen? Er ist einer der Architekten des WM-Silberwunders von 2018. Er hat nach der «Ära Del Curto» beim HCD den Turnaround geschafft. Und doch: Nun hat er zum ersten Mal seine persönlichen Interessen zur Unzeit stärker gewichtet als das Wohl seiner Spieler, seines Trainers, seiner Mannschaft und seines Klubs.
Beim Wechsel vom Verband zu Davos hat er sich noch offiziell an die Regeln gehalten und erst mit der Erlaubnis seines alten Arbeitgebers mit dem neuen Arbeitgeber verhandelt. Aber jetzt hat er sich hinter dem Rücken seines Präsidenten Gaudenz Domenig mit dem SCB geeinigt.
Der HCD-Obmann steht, vielleicht ohne es zu ahnen, vor seiner heikelsten Mission. Womöglich unterschätzt er die Situation. Er darf diesen «Verrat» nicht durchgehen lassen. Er ist es dem HCD schuldig, beim SCB für die hinterrücks und stillos erfolgte Abwerbung seines Sportdirektors eine saftige monetäre Satisfaktion zu fordern. Das Gesetz ist auf seiner Seite. Es geht um die HCD-Ehre. Um das Bekenntnis zum HCD. Den HCD lässt man nicht einfach so im Stich. Und schon gar nicht vor den Jubiläumsfeiern zum 100. Geburtstag. Wie soll er künftig Gefolgschaft und Loyalität einfordern, Lohnverzicht sogar, wenn er diesen «Verrat» durchgehen lässt?
Die einzige Sprache, die Marc Lüthi versteht, ist die Sprache des Geldes.
Es ist Zeit, dass dem SCB-Imperator für einmal ein wenig «die Hühner eingetan» werden. Damit er wieder lernt, die Hockey-Anstandsregeln zu respektieren. Auch zum Wohle seines so tief gesunkenen SC Bern.
Überaus erfreuliche Anzeichen für eine Besserung gibt es schon. Nachdem Marc Lüthi nach der Entlassung von Trainer Don Nachbaur schamlos behauptet hatte, der Kanadier habe sein Amt freiwillig niedergelegt und die Trennung sei daher kostenlos, folgte gestern kleinlaut die Wahrheit.
In seinem lesenswerten neusten «Hirtenbrief» auf der klubeigenen Webseite steht doch tatsächlich: «Ja, wir haben Kari Jalonen und Don Nachbaur auszahlen müssen. Das macht keine Freude und wird auch nicht entsprechend budgetiert.»
Ohne jede Bosheit dürfen wir sagen: Auszahlen kostet. Gott sei Lob und Dank, scheint der SCB im Geld zu schwimmen.