Weil der Trainer nicht in Frage gestellt werden kann und darf, wird in Davos gerne auf gesellschaftliche Entwicklungen verwiesen. Zusammengefasst ungefähr so: Es sei eben schwierig geworden, ein Hockey-Unternehmen oben in den Bergen zu finanzieren. Die Spieler der «Generation Smartphone» leben, lieben und spielen lieber in den urbanen Zentren.
Doch so ist es nicht. Es gibt sie noch, die wahre Hockey-Romantik. Ambri beweist, dass Eishockey in den Bergen, in einer Randregion heute noch möglich und cool ist. Ambri ist der neue HCD und Luca Cereda der neue Arno Del Curto.
Wenn Ambri erfolgreich sein kann, dann ist es auch für den HCD möglich, die Liga wieder zu rocken. Der HCD hat sogar die besseren Voraussetzungen als Ambri. Davos ist ein Weltkurort und die Dependance der Zürcher Goldküsten-Millionäre. Sie helfen gerne mit, den HCD ein wenig zu alimentieren. Der Spengler Cup gilt als sportliches Weltkulturerbe und spült dem HCD Jahr für Jahr zwei Millionen in die Kasse. Mindestens.
Ambri ist hingegen ein «Geisterdorf» am Südfuss des Gotthards, dieser steinernen Seele Helvetiens. Kein Kurort. Fast ganz verlassen, seit die Schnellzüge nicht mehr halten und die Autos auf dem Highway grusslos durchs Tal brausen. Davos hat von allen Orten auf der Alpennordseite am meisten Sonnentage. In Ambri kommt die Sonne von November bis Februar nicht mehr hinter den mächtigen Bergen hervor. Ein kalter, dunkler, düsterer Ort.
Und doch lebt Ambris Hockeykultur. Ja, Ambri mischt inzwischen mit seinem dynamischen, mutigen, leidenschaftlichen, mitreissenden Jugendstil-, Energie- Lauf- und Tempohockey den «Strichkampf» auf und ist die Mannschaft der Stunde. Ambri mahnt an den wilden HCD nach dem Wiederaufstieg in den 1990er Jahren. Sogar die zweite Playoff-Qualifikation seit 2006 ist möglich.
Was macht Ambri besser als Davos? Da ist der Vorteil, «von unten» zu kommen. Davos war noch 2015 Meister (Ambri in der gleichen Saison in der Qualifikation 11.). Nichts macht einen Wandel, einen Umbruch, einen Neuanfang oder gar eine Revolution so schwierig wie eine ruhmreiche Vergangenheit. Alteingesessene, meisterliche, aber altmüde Leitwölfe wie Captain Andres Ambühl (35) oder Félicien Du Bois (35) blockieren die Hierarchie. In Ambri war Michael Fora letzte Saison vor dem Aufbruch zu seiner amerikanischen Kurzvisite mit 21 Jahren der jüngste Captain der Liga.
Und da ist noch etwas, was oft vergessen geht: Das Scouting ist in Ambri besser. Kein Wunder: Ambri hat mit Paolo Duca (37) einen echten, charismatischen Sportchef. Er ist der Architekt der Revolution und der gleichaltrige Luca Cereda sein Baumeister.
Bestes Beispiel: mit Marco Müller (24) hat Ambri im Sommer 2017 dem SCB einen Stürmer ausgespannt, der inzwischen dazu in der Lage ist, einen ersten oder zweiten Sturm zu führen. Davos übernahm im letzten Sommer vom SC Bern bloss die weniger talentierten «Hinterbänkler» Luca Hischier (23) und Dario Meyer (21).
Eine Schmach, eine Blamage, ja eine Bankrotterklärung für die HCD-Sportabteilung. Dominic Zwerger spielte vor seiner Abreise nach Nordamerika (2013) bei den Novizen- und Elitejunioren in Davos.
Ambri hat auch Glück. WM-Silberheld Michael Fora ist zurück. Sein Amerika-Abenteuer, eigentlich für zwei Jahre geplant, ist schon nach ein paar Wochen zu Ende gegangen. Er kann das entscheidende Puzzle-Teilchen für die Playoff-Qualifikation werden. Die aktuelle Krise der Davoser ist bei weitem nicht so schlimm wie jene, die Ambri inzwischen nach einer jahrelangen Depression überwunden hat. Ambri musste 2011, 2012 und 2017 sogar in die Liga-Qualifikation. Die letzte Chance war eine Revolution. Luca Cereda und Paolo Duca haben diese Chance genutzt.
Ist also Ambri Vorbild und Hoffnung für den HCD? Ja und nein. Ja, weil die Voraussetzungen (Finanzen, Infrastruktur, geographische Lage) in Davos oben besser sind als in der Leventina.
Nein, weil es in Davos wieder eine Revolution braucht. Revolutionen können nur charismatische Persönlichkeiten machen. Wie vor 22 Jahren Arno Del Curto in Davos. Wie jetzt Luca Cereda und Paolo Duca in Ambri. Aber so wie Kuba keinen zweiten Fidel Castro, so findet Davos keinen neuen Arno Del Curto. Ohne Revoluzzer keine Revolution.
Kürzlich ist Gaudenz Domenig im kleinen Kreis von einem dem HCD gutgesinnten Chronisten darauf aufmerksam gemacht worden, dass der perfekte neue HCD-Trainer Luca Cereda heisst. Worauf der HCD-Präsident ganz spontan und ehrlich sagte: «Ja, aber wir dürfen doch Ambri den Cereda nicht wegnehmen!»
Wo er recht hat, da hat er recht. Oder geht da vielleicht doch etwas? Luca Cereda, mit 37 drei Jahre jünger als damals Arno Del Curto bei seinem Amtsantritt in Davos, kann Ende Saison aus seinem Vertrag in Ambri aussteigen.