Früher, in der Vormoderne des Schweizer Hockeys, in den 1970er- und frühen 1980er-Jahren, haben wir solche Partien verloren. Erstens, weil wir sowieso nicht soooooooo viel besser waren als Exoten wie Grossbritannien, Rumänien oder Holland. Und zweitens, weil wir einfach nicht das Selbstvertrauen (oder moderner: die Coolness) hatten, um Spiele zu gewinnen, die wir eigentlich hätten gewinnen können, sollen oder müssen.
Aber nun sind die Schweizer echte Titanen: Sie sind gegen den Hockeyzwerg nicht so ganz bei der Sache, Konzentrationsfehler in der Defensive und Flüchtigkeitsfehler in der Offensive sind nicht zu übersehen. So viel Folklore (53:26 Torschüsse!) war noch in keinem der vorangegangenen sechs WM-Spiele. Reto Berra muss sogar hexen. Erst sieben Sekunden nach der «Halbzeit» (30:07 Min.) trifft Santeri Alatalo zur 3:2-Führung. Es ist vollbracht. Die Schweizer setzen sich mühelos durch, bringen aber die folkloristische Note nie ganz aus ihrem Spiel.
Rund 2000 Kilometer südwestlich von Riga ist die Aufregung wesentlich grösser als im Stadion. SCB-Obersportchef Raeto Raffainer und sein neuer Untersportchef Andrew Ebbett sitzen im Büro vor zwei Bildschirmen. Auf einem läuft die Partie der Schweizer, auf dem anderen das Spektakel Finnland gegen Kanada.
Die beiden SCB-Bürogeneräle machen TV-Scouting. Ihr oberster Dienstherr Marc Lüthi fabuliert laufend, in Europa gebe es unzählige spottbillige «Hockey-Wanderarbeiter», die nur darauf warten, für viel weniger als 100'000 Franken netto bei uns dienen zu dürfen. Der SCB muss ja noch immer mindestens zwei ausländische Spieler finden. Sie sollten internationale Klasse haben und wenig kosten. Anton Lander hätte Raeto Raffainer gerne gehabt. Aber der schwedische Center zieht es vor, künftig für das meisterliche Zug zu stürmen.
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Und nun zurück zur Spiel-Analyse..
Die Lösung flimmert eigentlich über den Bildschirm. Der britische Stürmer Liam Kirk erzielt gegen die Schweizer sein 6. und 7. Tor (!) an dieser WM. Solche Werte erreicht keiner mit spielerischen Hosenknöpfen. Keine Frage: Liam Kirk wäre gut genug für die National League, gut genug für den grossen SCB. Wer Reto Berra zweimal bezwingt, wird auch gegen Ivars Punnenovs, Melvin Nyffeler oder Gilles Senn buchen. Er ist erst 21 und hat in der britischen Operetten-Liga noch keinen neuen Vertrag. Er entspricht exakt den Traumvorstellungen von SCB-Krämer Marc Lüthi: billig und gut.
Die Frage geht also an Raeto Raffainer: Ist Liam Kirk ein SCB-Kandidat? Er windet sich. Es ist förmlich zu spüren, dass er lieber nicht über dieses Thema reden würde. «Ja, wir beobachten ihn. Aber er wird nach dieser WM sicherlich teurer sein und er käme für uns sowieso höchstens als fünfter Ausländer infrage.» Aber warum denn? «Das Risiko ist einfach zu gross, dass wir uns blamieren, wenn wir einen Briten als Ausländer holen.»
Der SCB hat zwar in jüngster Zeit viel Mut zu unkonventionellen Personalentscheiden bewiesen. Aber nun zeigt sich, dass der SCB halt nicht aus seiner Haut fahren kann: Das Bayern München unseres Hockeys kann nicht kleine Brötchen backen. Grosse Namen sind fürs Prestige und den Abo-Verkauf wichtig. Also lieber einen bekannten, berühmten Namen, wenn möglich mit etwas NHL- oder KHL-Trompetengold, als einen unbekannten Engländer. Die SCB-Bürogeneräle sind nervös. Wenn sie sich mit einem Ober- und Untersportchef bei der Wahl des ausländischen Personals erneut irren, dann wird selbst das geduldige SCB-Fussvolk vernehmlich murren.
Und wenn wir schon beim Thema sind: Das Gerücht, Ambris Mittelstürmer Marco Müller sei trotz weiterlaufendem Vertrag auf dem Markt, will einfach nicht verstummen. Marco Müller sagt zwar: «Ich weiss von nichts», Ambris Sportchef Paolo Duca hütet sich wohlweislich vor einer Stellungnahme und Marco Müllers Agent Martin Plüss hat gerade keine Zeit: Er muss sich als TV-Experte mit der WM beschäftigen.
Natürlich interessiert sich auch Raeto Raffainer für diese Sache. Marco Müller ist ein ehemaliger SCB-Junior. Der SCB-Obersportchef sagt, er habe weder von Marco Müller noch von Martin Plüss oder Paolo Duca in der Sache auch nur ein Wort gehört. Inzwischen sei ihm aber über drei Ecken zugetragen worden, da würde nur etwas mit einem Tauschgeschäft laufen und Paolo Duca suche dringend einen Verteidiger. «Aber wir können niemanden für ein Tauschgeschäft anbieten ...» In der Sache wird schon noch etwas gehen.
Wir sind kurz vom Thema abgekommen: Die Schweizer haben mit dem 6:3 gegen die Briten die Vorrunde abgeschlossen. Der Gegner im Viertelfinal steht erst heute Abend nach den letzten Partien fest. Bei der Silber-WM 2013 haben wir alle sieben Vorrundenspiele gewonnen, bei der Silber-WM 2018 drei Partien verloren: Gegen Tschechien (4:5 n.P), Russland (3:4) und Schweden (3:5). In Riga sind wir nun gegen Schweden (0:7) und Russland (1:4) als Verlierer vom Eis gegangen. Wir sind also statistisch durchaus auf Final-Kurs.
Aber eines ist schon jetzt klar: Der Weg zum WM-Titel ist ein bisschen weniger steinig als 2013 und 2018. Gegen einen einzigen Gegner haben wir noch nie ein Spiel gewonnen, bei dem es ums Weiterkommen oder Ausscheiden geht. Gegen Schweden. 2013 (1:5) und 2018 (2:3 n.P.) haben wir den Final gegen die Skandinavier verloren.
Nun sind die Schweden bereits nach der Vorrunde ausgeschieden. Zum ersten Mal seit der WM 1937 in London. Damals mussten sie nach Niederlagen gegen Kanada (0:9), Polen (0:3) und Frankreich (1:2) vorzeitig heimreisen. Die Schweiz holte hinter Kanada und England WM-Bronze und gewann den Fairplay-Cup.
1937: Nach den Gruppenspielen keine Schweden mehr im Turnier und Bronze für die Schweiz. 2021: Nach den Gruppenspielen erstmals wieder keine Schweden mehr im Turnier. Ein gutes Omen.
P.S. Eine Prognose fürs Viertelfinal können wir aufgrund der Erkenntnisse aus dem 6:3 gegen die Briten wagen: Im Viertelfinal wird Leonardo Genoni im Tor stehen.