Wer etwas früher hinauf nach Ambri gekommen ist, der ahnt, dass ein dramatisches sportliches Schauspiel mit einer dramatischen Niederlage enden wird. Im fahlen Licht der «blauen Stunde» wirkt das karge, schneefreie Bergtal der Leventina kurz nach Sonnenuntergang unheimlich und doch schön wie eine Landschaft aus einem Film von Peter Jackson («Herr der Ringe»). Und die Valascia wie eine Raumstation.
Die ZSC Lions siegen in der Verlängerung, weil sie auftreten wie Ambri. Leidenschaftlich, mutig und bereit, um jede Scheibe und jeden Zentimeter zu kämpfen. Mit dieser Einstellung hätten sie letzte Saison die Playoffs geschafft und vielleicht gar den Titel verteidigt. Lernen die Schillerfalter aus dem Hallenstadion beissen?
Trainer Rikard Grönborg war letzte Saison noch nicht dabei. Er kann also nicht vergleichen. Aber er sagt, das Auftreten seiner Mannschaft habe ihm sehr gut gefallen. Für die Zürcher hätte eine Niederlage keine Folgen gehabt. Ambri aber braucht, wenn es die Playoffs noch erreichen will, jeden Punkt. Und doch haben die ZSC Lions so gekämpft, als sei es das letzte Spiel der Qualifikation und ein Sieg ein «Muss» für die Playoffs. Das ist erstaunlicher als dieser Sieg unter erschwerten Umständen.
Ja, die Umstände sind erschwert: Der finnische Torhüter Joni Ortio ist krank. Lukas Flüeler zwickt es irgendwo im Unterkörper und er verzichtet noch während des Einlaufens auf einen Einsatz. So schlimm scheint die Verletzung nicht zu sein. Nach der Partie trägt er seine Hockeytasche eigenhändig aus dem Stadion zum Bus. Und er hinkt nicht.
Also kommt Daniel Guntern (24) zu seinem ersten (und womöglich einzigen) Auftritt seiner Laufbahn auf der grossen Bühne. Und wird gleich ein Held. Schnell wird klar: Seine Vorderleute wissen, dass ihr Goalie-Zauberlehrling ihre Unterstützung braucht.
Die Wechselwirkung zwischen Torhüter und Vorderleuten funktioniert, am Ende wird der letzte Mann einer der Väter des Sieges sein. Wäre auch er ausgefallen, hätten die Zürcher zehn Minuten Zeit bekommen, um einen Feldspieler in die Goalie-Ausrüstung zu stecken. Rikard Grönborg sagt, er habe sich darüber noch kurz mit Sportchef Sven Leuenberger unterhalten. Aber sie hätten beide keine Idee gehabt, wen sie zum Torhüter hätten umfunktionieren können. Mein Tipp: Denis Hollenstein. Dann hätte er dem Team am meisten genützt.
Es ist das Spiel, das Daniel Guntern vielleicht doch noch die Karriere im Profihockey verlängert. Als günstige Nummer zwei in der höchsten oder zweithöchsten Liga. In Zürich wird sein auslaufender Vertrag nicht mehr verlängert. Sportchef Sven Leuenberger hat mit Gottérons Ludovic Waeber die Nummer zwei für die nächste Saison schon verpflichtet.
Weil auch Garrett Roe fehlt (verletzt), treten die Zürcher nur mit zwei Ausländern an (Pettersson, Krüger). Der ZSC-Trainer sagt, er habe gar nicht überlegt, ob es möglich gewesen wäre, vom Farmteam (GCK Lions) ausländisches Personal auszuleihen:
Die überragende Figur ist Pius Suter. In dieser Form in allen drei Zonen der dominanteste Flügel der Liga. Er ist an allen drei Treffern beteiligt und hat oft die beste gegnerische Linie mit den drei Nordamerikanern Brian Flynn (31), Scottie Upshall (36) und Matt D’Agostini (33) gegen sich. Das Trio bringt exakt 100 Jahre aufs Eis, aber auch die Erfahrung aus mehr als 1300 NHL-Partien.
Auf der Tribüne wird gemurrt, auch von Kennern, es sei kein «gutes Spiel». Tatsächlich kommt die spielerische Kunst viel zu kurz. Die Zürcher, im Bestreben, das Spektakel von ihrem Goalie fernzuhalten, packen Ambris Spiel mit tiefem Forechecking schon an der Wurzel. Der Aussenseiter muss sehr viel Kraft aufwenden, um sich aus der eigenen Zone lösen zu können. Der öffnende Pass in die Tiefe des Raumes wird durch den Zweikampf ersetzt «Gubrist-Hockey» auf dem ganzen Eis: Spielerische Staulagen, die Spektakelhockey unmöglich machen.
Dazu tragen auch die Unanständigen aus Zürich bei. Die mitgereisten Anhängerinnen und Anhänger der ZSC Lions. Sage und schreibe sieben Mal müssen Männer mit Besen und Schaufel ausrücken, um vor dem Gästesektor das Eis von hineingeworfenen Gegenständen zu reinigen. Die Zuordnung der Sünderinnen und Sünder ist so eindeutig, dass den ZSC Lions eine hohe fünfstellige Busse ins Büro flattern wird.
Hätten sich die Zürcher auf ihre überlegenen spielerischen Mittel, auf ihr Talent verlassen, hätte Ambri wahrscheinlich gewonnen. Aber gegen eine Mannschaft, die exakt die eigenen Qualitäten ausspielt, ist es schwierig. Ambri wird sozusagen von seinesgleichen besiegt. Und am Ende fehlt auch die Energie, um ein so intensives Spiel zu gewinnen. Trainer Luca Cereda – er mahnt ein wenig an einen Harry Potter des Hockeys – sucht keine Ausreden: «Wir haben damit gerechnet, dass wir nach dem Spengler Cup einen Durchhänger haben. Wir haben alles gegeben und alles versucht und deshalb ist es ein gewonnener Punkt. Mehr ging einfach nicht.» Er hadert nicht mit dem Schicksal. Er sucht keine Ausreden. Er ist ein Sohn der Leventina und weiss: Ambris Geschichte ist viel stärker durch solche Niederlagen als durch glanzvolle Siege geprägt. Eben der Mythos Ambri.
Die Frage ist also, ob Ambri die Energietanks rechtzeitig aufzufüllen vermag, um die Playoffs doch noch zu erreichen. Die Tapferen der Berge haben gegen die Tapferen aus der grossen Stadt verloren – sind die ZSC Lions unter ihrem neuen charismatischen Trainer, der in seinem Aussehen ein wenig an Ernest Hemingway mahnt, drauf und dran, wieder eine Siegermentalität zu entwickeln?
So oder so: Ein weiteres Spiel, das den Mythos Ambri festigt und am Ende gibt es noch eine Szene, die wunderbar dazu passt. Auf dem Eisfeld haben sich die mit Stöcken bewaffneten rauen Männer in ihren ritterähnlichen Ausrüstungen nichts, gar nichts geschenkt. Ein paar Mal flogen auch die behandschuhten Fäuste.
Aber dann, als alles vorbei ist, verschwinden alle zur gleichen Zeit durch die gleiche Türe im Bauch des Stadions, um in die Kabine zu gelangen. Freundliche Worte werden gewechselt und die besten Wünsche fürs neue Jahr in den verschiedensten Sprachen ausgetauscht. Die Verbrüderung der rauen Kerle nach einem filmreifen Hockeyabend mit einem Verlauf, als habe ein gut gelaunter Aki Kaurismäki das Drehbuch geschrieben und Peter Jackson die Kulisse entworfen.
Auch das gehört zum Mythos Ambri.
Chapeau Kloisu!