Die grösste Arena Europas ist ein riesiger, leerer Kühlschrank. Die Kälte kriecht durch alle Löcher und Ritzen, schleicht über den Beton und in den Wintermantel. So trostlos war es im Berner Hockeytempel wahrscheinlich an einem Spieltag noch nie. Weil es bei einem Geisterspiel noch nie so kalt war. Dabei steht ein Hockeyfest auf dem Programm: Der HCD kommt. Die Härte und Intensität der Berner gegen das Tempo und die Leidenschaft der Davoser. Die Voraussetzungen für ein grosses Spiel.
Geisterspiele sind trostlos. Das ist inzwischen so oft geschrieben, gesagt und gesendet worden, dass wir es nicht mehr wiederholen wollen. Aber Geisterspiele haben trotz allem auch einen ganz besonderen Reiz: Sie ermöglichen einen tiefen Einblick ins Innenleben einer Mannschaft. Der SC Bern, juristisch nach wie vor Meister, steht gegen den HCD sozusagen nackt im Kühlschrank PostFinance Arena.
Grundsätzlich gilt: ohne Publikum keine Stimmung. Doch das ist nicht ganz richtig. Im leeren Stadion machen die Spieler die Stimmung. Erst im leeren Stadion zeigt sich, ob die Spielerbank lebt.
Das Spiel läuft für den SCB. Das 1:0 schon nach 57 Sekunden. Der Ausgleich zum 2:2 bereits 70 Sekunden nach der ersten Pause. So ein «Kickstart» müsste Emotionen wecken. Auch die Statistik spricht für den SCB: Permanente Dominanz mit 44:35 Torschüssen und 4:1 Powerplays. Doch nur die HCD-Bank lebt. Ja, die Davoser sind so bei der Sache, dass der Blick des Chronisten hin und wieder über die leeren Tribünen schweift. Um nachzusehen, ob sich irgendwo verbotenerweise Fans hineingeschlichen haben und diesen Lärm verursachen. In Bern sind keine Zuschauerinnen und Zuschauer erlaubt.
Aber es sind die Spieler auf der HCD-Bank, die für Stimmung und ein wenig Lärm in der Arena sorgen. Sie feuern sich gegenseitig an. Fiebern mit. Klopfen mit den Stöcken Applaus oder Schiedsrichter-Protest an die Bande. Das ist bei einem Hockeyteam eigentlich normal. Nur fällt es eben in einem vollen Stadion nicht auf. Hingegen ist es nicht normal, dass auf der SCB-Bank fast nichts läuft. Keine Emotionen. Im eigenen Stadion. Der stumme Meister. Der SCB kann ohne Emotionen nicht gewinnen. Weil ohne Emotionen die Intensität fehlt, die zur DNA des SCB-Spiels gehört.
Dieses 2:6 gegen einen HCD, dem sechs Stammspieler fehlen und der auch nur drei Ausländer einsetzen kann, ist eine der schlimmsten Heimpleiten der letzten Jahre. Die Leere des Stadions entlarvt eine seltsame emotionale Leere beim SCB.
Das ist es, was SCB-Trainer Don Nachbaur beunruhigt. Er ist nach dem Spiel nicht zornig. Es ist schlimmer: Er wirkt rat- und fassungslos. Der freundliche Kanadier mag kein grosser, charismatischer Bandengeneral sein. Aber er ist eine ehrliche Haut. Eine Kämpfernatur im besten Wortsinn. Fragen treiben ihn um. Wie kann es sein, dass seine Spieler nicht gekämpft haben? Dass sie die Niederlage über sich ergehen liessen wie einen Besuch bei der Dentalhygienikerin? Dass sie sich nie aufgelehnt haben? Dass es fast so schien, als sei ihnen die Niederlage … egal?
Don Nachbaur spricht von fehlendem Stolz, fehlender Leidenschaft, viel zu vielen Fehlern und verlorenen Zweikämpfen und kann den fehlenden Siegeswillen einfach nicht verstehen. Er rügt die Routiniers, die Veteranen, die Leitwölfe.
Minus 4 für Gaëtan Haas, NHL-Profi, Schweizer Meister und WM-Silberheld. Minus 4 für Vincent Praplan, WM-Silberheld. Minus 3 für Ramon Untersander, vierfacher Schweizer Meister und WM-Silberheld. Minus 3 für Beat Gerber, sechsfacher Schweizer Meister. Sogar Simon Moser, der untadelige Captain, zweifacher WM-Silberheld und dreifacher Meister muss mit einer Minus-Bilanz (-1) vom Eis. Und bloss 85,29 Prozent Fangquote für Tomi Karhunen. Das wird Konsequenzen für den finnischen Goalie haben. Don Nachbaur macht ihn nicht verantwortlich für die Niederlage, aber er nimmt den letzten Mann auch nicht von der Kritik aus, wie es sonst Trainer zu tun pflegen. Er kündigt an: «Diese Woche wird Philip Wüthrich zum Einsatz kommen.» Das SCB-Jahrzehnttalent wird also mindestens bei einer der beiden Partien in dieser Woche (am Freitag in Ambri, am Samstag gegen Langnau) im Kasten stehen.
Auf der Gegenseite notieren die Statistiker «Plus 3» für Joe Thornton, die 41-jährige NHL-Ikone. Eigentlich beschämend für die Berner, dass der eingebürgerte Kanadier, der sich ja eigentlich «nur» für die NHL-Saison vorbereitet, mit mehr Feuer und Flamme bei der Sache ist als sie selbst. Es hat eben schon einen Grund, warum er in der NHL Kultstatus hat. Die Grossen wollen immer gewinnen. Ob auf dem Eis oder beim Kartenspiel.
Wahrscheinlich wäre der SCB in einem vollen Stadion ganz anders aufgetreten. Aber dieses tröstliche Argument lässt Don Nachbaur nicht gelten. Er sagt, die Voraussetzungen seien für alle Mannschaften gleich. Wo er Recht hat, da hat er Recht.
Der SCB hat nur zwei der letzten acht Spiele gewonnen. Nach dem 1:2 gegen Gottéron ist das blamable 2:6 die zweite Heimniederlage de suite. Unter normalen Umständen würde jetzt der Baum brennen. Aber in Zeiten der leeren Stadien, der leeren Kassen und leeren Hockey-Herzen verlieren Siege und Niederlagen ihre Bedeutung. Kein Abstieg, kein Publikum, alles bloss noch ein Spiel. SCB-Manager Marc Lüthi wird kein Geld für eine Trainerentlassung bewilligen.
Erreicht Don Nachbaur mit seiner Botschaft, mit seinen Worten die Köpfe, die Herzen, die Hockey-Seele seiner Spieler? Auf diese alles entscheidende Frage werden wir nun eine Antwort bekommen. Die nächsten zwei Gegner – Ambri auswärts, Langnau auf eigenem Eis – sind spielerisch limitiert, haben weniger Talent als der Meister. Aber sie sind berühmt für ihren Kampfgeist. Niederlagen gegen dieses Ambri und gegen dieses Langnau? Marc Lüthi würde toben.
Jetzt ist es erst einmal an Don Nachbaur zu toben – um zu verhindern, dass Marc Lüthi tobt. Der Kanadier erwartet eine heftige Reaktion. Und der Chronist dankt den Hockeygöttern, dass er am Mittwoch und am Donnerstag nicht zu Don Nachbaur ins Training muss. Dass der SCB-Trainer die Niederlage so ruhig analysiert hat, ist für die Spieler ein beunruhigendes Zeichen: There is always a calm before the storm.
Es geht ihm doch hoffentlich gut