Ist es die Verwurzelung in der Region? Nein, das allein macht es nicht aus. Ambri oder Langnau sind ebenso tief in ländlichen Regionen verankert und auch die Stadtklubs haben einen starken lokalen Rückhalt.
Ist es das pure Talent der Spieler? Nein, schon gar nicht. Kürzlich hat ein grosser Trainer gesagt, der sich seit Jahren in unserem Hockey auskennt: «Wenn von einem Tag auf den anderen alle Spieler von Ajoie auf den Markt kämen – nicht viele würden in der National League einen Job bei anderen Klubs finden.» Das ist wahrscheinlich richtig. Schweizer Stars. Spitzenverdiener und Nationalspieler hat Ajoie keine. Die fünf bestverdienenden Spieler bei Zürich, Bern, Lugano, Gottéron, Bern, Davos und Biel kosten mehr als die halbe Mannschaft des Aufsteigers. Aber mit dem von der Konkurrenz vergessenen Tim Wolf (29) hat Ajoie seit drei Jahren einen Torhüter, der einen Sieg «stehlen» kann. Lugano wäre mit Tim Wolf ein Spitzenteam.
Im Grunde ist Ajoie eine Mannschaft der Swiss League mit einem vergessenen NL-Torhüter und recht guten Ausländern. Das sind eigentlich denkbar ungünstige Voraussetzungen für einen Liga-Benjamin. Kommt dazu: Die Aufstiegssaison dauerte bis Ende April. Die Sommerpause war also gut drei Wochen kürzer als etwa in Langnau oder Ambri. Kaum ein Spieler des Neulings kennt die enorme physische Beanspruchung in der National League mit den unsinnigen Doppelpartien aus Erfahrung. Diese Belastung gab es in der zweithöchsten Liga nicht. «Zwei Spiele in zwei Tagen auf diesem Niveau bringen uns fast um» erklären Sportchef Vincent Léchenne und Trainer Gary Sheehan. Vincent Léchenne sagt auch: «Wir Sportchefs sollten uns zusammentun und in dieser Sache bei der Liga etwas unternehmen. Es geht um die Gesundheit der Spieler.»
Ajoie muss seine wichtigsten Spieler sowieso über Gebühr forcieren. Sieben schultern diese Saison bereits mehr als 20 Minuten Eiszeit pro Partie. Bei Zug oder dem SC Bern sind es bloss zwei und selbst bei Langnau lediglich drei. Eine solch extreme Belastung erhöht die Verletzungsgefahr. Ajoie hat bereits sieben seiner acht Ausländerlizenzen eingelöst. Nicht weil die engagierten Ausländer zu wenig gut sind. Sondern weil sie laufend durch Verletzungen ausfallen.
Alles spricht also für eine völlige Chancenlosigkeit. Aber Ajoie ist nicht chancenlos. Zwar Schlusslicht. Aber nach Verlustpunkten gleichauf mit Vorjahresfinalist Servette und nur ein Punkt hinter Langnau. Was steckt hinter diesem erstaunlichen Erfolg? Die Hockey-Romantik. Was ist Hockey-Romantik? Hockey-Romantik ist, wenn eine Gruppe junger Männer und ihre Chefs Hockey nach dem Motto «for the Love of Hockey» zelebrieren.
Geführt wird diese Gruppe bereits in der 9. Saison von Trainer Gary Sheehan (57) und seinem Assistenten und Sportdirektor Vincent Léchenne (55). Der eingebürgerte Kanadier mahnt mit seiner Hockeybesessenheit durchaus ein wenig an Arno Del Curto. Aber er setzt – mehr als all seine Berufskollegen – auf Spiel, statt taktische Schablone. Er erklärt es so: «Wir haben vor unserem Aufstieg jahrelang dominiert und vorwärts gespielt und meistens gewonnen. Ich kann nun nicht auf einmal von meinen Spielern reines Defensivhockey verlangen. Sie wollen spielen. Also spielen wir.»
Was anderen die taktische Schablone, das ist bei Ajoie Leidenschaft, Spielfreude und die Hockey-Romantikern eigene spielerische Schlauheit, Unbeschwertheit und ein scheinbar unerschütterliches Selbstvertrauen. Dafür ist Philip-Michaël Devos (31) das beste Beispiel: Der Kanadier gewöhnt sich nach 6 Jahren in der Swiss League (in denen er die Liga dominierte) mehr und mehr an das Niveau der höchsten Spielklasse. In den ersten 5 Partien der Saison musste er sich mit einem Skorerpunkt begnügen. Nun hat er in den letzten 5 Spielen 6 Punkte gebucht und zuletzt den Siegestreffer gegen die ZSC Lions (4:3) erzielt und beim 2:3 n.V. in Ambri hatte er bei beiden Toren den Stock im Spiel. Inzwischen hat er gleich viele Skorerpunkte auf seinem Konto wie Denis Hollenstein, Denis Malgin oder Mark Arcobello.
Dass es am Ende der Saison keinen Absteiger gibt, spielt Ajoie in die Karten. Die Spiele werden so nie zu einem Existenzkampf. So fällt es leichter, Romantiker zu sein und Eishockey als Spiel zu zelebrieren und eine gewisse Lockerheit zu bewahren.
Der Aufsteiger gerät zwar in den meistern Partien arg unter Druck. Nur in 2 von bisher 18 Spielen gelangen Ajoie mehr Torschüsse als dem Gegner und der Rekord steht bei 36 beim 3:2 über Langnau. Und schon acht Mal musste Ajoie 40 oder mehr Schüsse aufs eigene Tor ertragen. Aber das Spiel wird trotz offensichtlicher «Feldunterlegenheit» nie destruktiv und nie passiv. Will heissen: Wehe, es bietet sich die geringste Möglichkeit, um vorwärts zu stürmen. Sie wird erfasst. Ein Gegner, der Ajoie dominiert und dominiert und dominiert, wird dann eiskalt erwischt und verwundert reiben sich die gegnerischen Coaches die Augen. Die ZSC Lions haben soeben in Ajoie mit 59:22 Torschüssen dominiert und 3:4 verloren. Und in Zug ist bei 15:45 Torschüssen ein 3:2 nach Verlängerung gelungen.
Im Grunde spielt Ajoie so wie einst Ali am 24. Oktober 1974 den wohl grössten Boxkampf der Geschichte gegen George Foreman gewonnen hat: Experten erwarten einen schnellen K.O-Sieg von George Foreman. Er gilt im Minimum als 3:1-Favorit. Und tatsächlich: Ali wird dominiert und dominiert und hängt viel in den Seilen. Aber er verliert nie den feinen Instinkt für den Gegenschlag, trifft seinen Gegner immer wieder schmerzhaft und gewinnt nach acht Runden durch K.O. Wobei wir anmerken wollen: Ajoie ist natürlich nicht so talentiert wie Ali. Aber Ajoies Gegner sind so dominant wie George Forman und in jeder Partie mindestens 3:1-Favoriten.
Der «Höllenritt» durch die National League ist für die Spieler von Gary Sheehan letztlich ein aufregendes Abenteuer. Für die meisten ist es die einzige Chance für eine Präsenz auf der höchsten nationalen Bühne. Dabei spielen die Erinnerungen an den wundersamen Cup-Sieg im Februar 2019 eine wichtige Rolle. Im Cup hat Ajoie über die Jahre Langnau, die ZSC Lions, Biel, Lausanne und 2019 im Final Davos besiegt. Gary Sheehan sagt: «Seither wissen wir, dass wir immer eine Chance haben.» Aber eben: Es geht jetzt nicht mehr um ein paar Spiele gegen Höherklassige im Laufe einer ganzen Saison. Nun ist jede Runde Cupfinal. 52 Mal Cup-Final.
Entscheidend ist, dass Ajoie während dieser entbehrungsreichen Expedition, diesem «Höllenritt» durch die höchste Liga der «Proviant» nicht ausgeht. Denn bei aller Romantik: Zu viele Niederlagen entmutigen jede Mannschaft, untergraben das Selbstvertrauen jedes Spielers und «zerstören» die Autorität des besten Trainers. Gary Sheehan weiss sehr wohl, warum er sagt: «Jedes Erfolgserlebnis ist für uns Gold wert.»
Solange das Selbstvertrauen intakt bleibt, hat Ajoie kein Problem. Auch in dieser Beziehung ist jeder Sieg von grösser Bedeutung: Mag sein, dass es hin und wieder eine hohe Niederlage absetzt. 2:7 gegen Lugano, 0:6 in Bern und Davos, 3:9 in Langnau. Aber inzwischen wissen alle: Okay, das war halt nicht unser Abend. Na und? Wir sind trotzdem gut genug, um im nächsten Spiel eine Chance zu haben.