Grosse, dramatische, kuriose, denkwürdige historische Spiele säumen über die Jahre den Weg des Chronisten. Vom 6:3 gegen Biel, das Langnau 1976 den einzigen Titel bringt. Bis hin zum ersten Einsatz von Nico Hischier in der NHL.
Aber eine Partie schien ausserhalb des Zeithorizontes und der Vorstellungskraft. Zumindest solange er noch chronistet. Das erste Spiel des HC Davos ohne Arno Del Curto.
Und nun ist es doch da. Es ist zwar «nur» der Cup-Viertelfinal gegen Rapperswil-Jona. Und trotzdem: Dieses Spiel ist historisch. Diese Partie markiert den Beginn eines neuen Zeitalters. Geschichte wird geschrieben. Eine Zeitenwende. Und er findet eine erste Antwort auf die Frage: Gibt es überhaupt in Davos ein Hockeyleben nach Arno Del Curto? Der Chronist fährt nach Davos.
Es ist ein seltsames Spiel. Arno Del Curto hat am Spieltag seinem Präsidenten Gaudenz Domenig den Rücktritt gegen 09.00 Uhr im Büro der Geschäftsstelle verkündet. Den Fans bleibt gar keine Zeit, ein Plakat oder wenigstens ein Spruchband zu malen. So in der Art «Danke, Arno, für 22 Jahre». Sie können sich in der eigenen, nicht einmal zur Hälfte gefüllten Arena gegen die Fans aus Rapperswil-Jona auch akustisch nicht durchsetzen. Das erste Heimspiel ohne Arno Del Curto ist fast ein Auswärtsspiel.
Wäre ein Fremder im Stadion gewesen – er hätte nicht bemerkt, dass soeben ein Kapitel Hockeygeschichte zu Ende gegangen ist und ein neues begonnen hat. Kein Plakat. Kein Spruchband. Keine Lautsprecherdurchsage. Keine Sprechchöre. Bertolt Brecht hätte gesagt: Stell dir vor, Arno Del Curto ist weg und niemand merkt es.
Nur ein erfahrener, aufmerksamer Beobachter erkennt den Ernstfall. Präsident Gaudenz Domenig steht unten an der Bande. Was sonst nie der Fall ist. Wir wissen aus der Geschichte, dass die Generäle nur in ausserordentlichen Situationen vorne an der Front auftauchen.
An der Bande hat Remo Gross (58) das letzte Wort. Der «ewige Assistent» ist jetzt Cheftrainer. Sekundiert von Sandro Rizzi (40), dem ehemaligen Captain. Das ist ungefähr so, wie wenn Alfred Rasser als HD Läppli an Stelle von General Henri Guisan ein grosses Armee-Manöver kommandiert hätte.
Die Übung missglückt vollständig. Die Davoser dominieren und verlieren in der Verlängerung (3:4) ein Spiel, das sie nie hätten verlieren dürfen. Gegen den Tabellenletzten. Auf eigenem Eis. Gegen den mutmasslichen Gegner in den Playouts.
In diesem Spiel zeigen sich beim HCD erste Anzeichen des «Erich-von-Däniken-Syndroms.» Erich von Däniken versucht den Nachweis zu erbringen, dass einst Ausserirdische unter uns weilten. Als Beweis nennt er beispielsweise Völker, die bei Ritualen seltsame Gewänder tragen, die Nachbildungen von Raumanzügen sein müssten. Natürlich sind es keine echten Raumanzüge. Aber man erkennt, wenn man genau hinsieht, tatsächlich Strukturen, die an Raumanzüge mahnen. Ihre Ahnen haben einst wohl richtige Raumanzüge gesehen und versucht, diese nachzubauen.
Gegen Rapperswil-Jona zelebrieren die Davoser wirres, hektisches, schnelles, dynamisches Energiehockey. Es muss eine Nachahmung jenes Spiels sein, das ihnen wohl einst der berühmte Arno Del Curto beigebracht hat. Nun ist es kein echtes «Arno-Hockey» mehr. Präzision, Disziplin und Effizienz fehlen. Aber man erkennt, wenn man genau hinsieht, tatsächlich Strukturen aufblitzen, die an richtiges «Arno-Hockey» mahnen.
Rapperswil-Jona genügen einige wenige Handgriffe, ein paar Konter, um die Partie zu gewinnen.
Heute erkennen wir im Rückblick, dass der 4. Februar 2018 wohl der Anfang vom Ende der «Ära Del Curto» war. Der Anfang des leisen Zerfalles eines grossen Teams und der Autorität eines grossen Trainers. An diesem Tag verlor der HCD in Rapperswil-Jona den Cup-Final 2:7.
Und was ist jetzt dieses 3:4 nach Verlängerung auf eigenem Eis? Eine Warnung. Der HCD ist akut abstiegsgefährdet. Die Titanic hat den Eisberg gerammt. Noch gelingen einzelne grosse, begeisternde Partien. 4:1 in Langnau. 7:2 in Biel. 5:1 im Zürcher Hallenstadion. Aber selbst Arno Del Curto war es nicht mehr gelungen, diese Magie festzuhalten.
Remo Gross und Sandro Rizzi sind dazu auch nicht in der Lage. In den Schuhen von Arno Del Curto können sie nicht stehen. Nicht einmal dann, wenn sich beide gemeinsam ins gleiche Paar Schuhe zwängen.
Aber Gaudenz Domenig muss das Vakuum an der Spitze füllen. Sonst «implodiert» die Mannschaft. Wen soll er als neuen Trainer holen? Der HCD-Präsident wahrt Ruhe und freundliche Gelassenheit. Wie einst Kapitän John Edward Smith auf der Titanic. Der Zufall will es übrigens, dass der erfahrene Seemann, als er mit dem grössten, schönsten Schiff der Welt in den Fluten des Atlantiks versank, genau gleich alt war wie heute Gaudenz Domenig, der Kapitän auf der Kommandobrücke des HC Davos.
Item, der HCD-Vorsitzende stellt sich der Verantwortung. Er wird die Trainerfrage nach bestem Wissen und Gewissen lösen. Er hat ein gutes Gespür für Menschen und damit auch für seine Mannschaft.
Man werde nun eine Liste aller möglichen Namen erstellen. Einen Namen hat er klugerweise praktisch schon gestrichen. Kevin Schläpfer. Mit einer einleuchtenden Begründung: «Er ist mit Kloten abgestiegen …». Tja, den Schwefelgeruch dieses Abstieges bringt Kevin einfach nicht aus den Kleidern.
Eigentlich weiss Gaudenz Domenig, wer für nächste Saison der ideale Trainer wäre, um diese junge Mannschaft weiterzuentwickeln. Ambris Luca Cereda, sogar noch jünger als damals Arno Del Curto beim Amtsantritt. Aber jemand aus der Runde mahnt den Präsidenten: Er habe doch kürzlich noch erklärt, man dürfe Ambri Luca Cereda nicht wegnehmen. Der HCD-Obmann hat eine kluge Antwort. Er halte es wie Konrad Adenauer. Der legendäre deutsche Kanzler prägte einst den weisen Spruch: «Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern?»
Tatsächlich läuft Luca Ceredas Vertrag in Ambri nach dieser Saison aus. Aber er wird sich fragen, ob ein Wechsel auf die Hockey-Titanic Davos seine Karriere befeuert.
Eigentlich müsste Gaudenz Domenig alles daransetzen, beim EV Zug Jason O’Leary, den Trainer des Farmteams, per sofort aus dem laufenden Vertrag heraus als neuen Cheftrainer zu verpflichten.
Die Spieler sind ruhig und freundlich. Musterprofi. Sie wissen, was Sache ist. Aber haben sie schon realisiert, dass Arno Del Curto nicht mehr da ist? Nein. Der «Trennungsschock» steht noch aus.
Die Frage kann natürlich nicht ausbleiben: Gab es Gruppenbildungen oder gar Zerfallserscheinungen in der Mannschaft? Passiven Widerstand gegen den Trainer? Natürlich geht ein Spieler, der bei Sinnen ist, nicht auf solche Fangfragen von Chronisten ein.
Verteidigungsminister Félicien Du Bois (35) ist einer der Leitwölfe im Team. Er sagt, dass in der Kabine schon mal laute Worte gefallen sind. Und er wirkt glaubhaft, wenn er Gruppenbildungen, Intrigen und Zerfallserscheinungen verneint. Diese Mannschaft ist intakt und leistungswillig. Aber auch ratlos und überfordert. Zu viele Spieler sind mangels Talent und Erfahrung nicht mehr dazu in der Lage, umzusetzen, was der Trainer ihnen beibringen wollte.
Und was wird eigentlich aus Arno Del Curto? Gaudenz Domenig sagt, dass der Vertrag selbstverständlich eingehalten werde. Der scheidende Trainer wird also auf jeden Fall bis Ende Saison bezahlt. Und weil Gaudenz Domenig ein Ehrenmann ist, würde er im Falle eines Falles wohl dafür sorgen, dass sein ehemaliger Trainer über das Saisonende hinaus alimentiert wird. Mag jetzt auch vieles drunter und drüber gehen beim HCD – Stil und Anstand werden bewahrt.
Der Nonkonformist Arno Del Curto, gleich alt wie Gaudenz Domenig (und Kapitän Smith von der Titanic), passt nicht mehr in die Strukturen der modernen Hockeyunternehmen des Unterlandes. Zu eigenwillig, zu kauzig, zu direkt, zu engagiert. Er ist im besten Wortsinn zu gross geworden. Er hat zu viel erreicht. Er kann, wenn er irgendwo wieder einsteigt, nur verlieren.
Für Arno Del Curto wäre es eigentlich Zeit, in Pension zu gehen. Eigentlich. Aber es gibt zwei Klubs, die seit Jahren den «ewigen Traum» vom grossen Trainer träumen und zur Zeit kleine Trainer beschäftigen. Vicky Mantegazzas HC Lugano und Walter Freys ZSC Lions. Die Milliardärin und der Milliardär.
Nein, es geht nicht um Geld. Aber beide könnten es sich leisten, sich über alle Strukturen, gut gemeinten Ratschläge, Lehrmeinungen und Mahnungen hinwegzusetzen und Arno Del Curto den Freiraum zu gewähren, den er in Davos hatte. Sie könnten das «Experiment Arno» wagen.
Ach, wäre das ein Spektakel. Ach, jeden Tag Stoff für eine Geschichte und jeden zweiten für eine Polemik.