Ein Sieg erst in der Verlängerung (4:3/68. Minute). Aber schon in der Startphase entschieden? Wie kann das sein? Nein, es geht hier nicht um die Quadratur des Kreises. In dieser aussergewöhnlichen Partie war es tatsächlich so.
Die ZSC Lions zelebrieren die beste Viertelstunde der Saison. Präziser, wuchtiger und mutiger als die Zürcher in der Startphase kann keine Schweizer Mannschaft spielen. Und so ist es logisch, dass es bereits nach 8 Minuten und 15 Sekunden 2:0 steht. Die ZSC Lions rocken das Hallenstadion.
Aber genau in diesem Augenblick verlieren die Zürcher das Spiel und höchstwahrscheinlich auch dieses Halbfinale. Dieses 2:0 ist bereits der Kulminationspunkt dieser Partie – und auch dieser Serie. Die Wucht und die Intensität des ZSC-Powerhockeys haben den Höchststand erreicht. Wer Sinn und Sensibilität für dramatische Momente hat, kann ausgerechnet in diesem Augenblick des Triumphes erkennen, dass die ZSC Lions verlieren werden.
Dieses 2:0 ist nämlich das Tor zu viel für Leonardo Genoni. Bereits bei der Auftaktniederlage (2:3) am Dienstag in Bern war er kein grosser Torhüter gewesen. Und auch jetzt ist er bei beiden Gegentreffern nicht über alle Zweifel erhaben.
Genug ist genug. An der Körpersprache dieses sonst so coolen, beherrschten Torhüters ist nach dem 2:0 von der Tribüne aus zu erkennen, dass etwas in ihm vorgeht. Als ob er beschliesst, von nun an keine haltbaren Treffer mehr zuzulassen und wieder Meister zu werden. Aus dem sehr guten Goalie wird wieder ein grosser Goalie. Ein maskierter Titan.
Auch Trainer Kari Jalonen erkennt in diesem Augenblick, dass seine Mannschaft siegen wird. Der SCB ist bis zu diesem Zeitpunkt im besten Wortsinne überrollt worden, liegt 0:2 zurück, steht am Abgrund. Das Spiel, ja die Serie und damit die Titelverteidigung stehen auf dem Spiel. Wenn es je einen passenden Moment für ein Time-Out gegeben hat, dann jetzt. Für solche Augenblicke ist das Time-Out erfunden worden.
Aber Kari Jalonen nimmt kein Time-Out. Er lässt den Dingen ihren Lauf. Der sonst so wortkarge Finne wird hinterher sagen: «Ich sah auf der Bank in die Gesichter der Boys und erkannte, dass alles gut wird.»
Ja, so war es. Im bisher kritischsten Augenblick der Saison blieben alle cool und unerschütterlich. Der SCB biegt sich unter dem enormen gegnerischen Druck. Aber er bricht nicht.
Die Anspannung nach der Auftaktniederlage am Dienstag (die ZSC Lions siegten in Bern 3:2) ist bei Kari Jalonen gewichen. Während die Spieler ihre Taschen packen, schlendert er locker und gut gelaunt in der Kabine und im Gang herum wie Bruce Springsteen, der nach einem gelungenen Rockkonzert zusieht, wie seine Roadies die Instrumente von der Bühne räumen.
Als der grosse, wortmächtige Zürcher Conrad Ferdinand Meyer – neben Jeremias Gotthelf und Gottfried Keller der grösste helvetische Poet aller Zeiten – diese unerschütterliche Ruhe, Zuversicht und Sicherheit der Berner kennzeichnen wollte, prägte er das Wort vom «unbestürzbaren Bernergesicht». Der Berner. Er liebt den Berg, er ehrt die Scholle, blickt trotzig in die Gefahr und gelassen auf den Sieg.
Die Gelassenheit ist beim SCB wieder da. Die innere Ruhe ist zurück. Die urbernische Wesensart hat die SCB-Titanen in dieser Partie gerettet und keiner verkörperte sie so sehr wie Leonardo Genoni. Er verhindert nun nacheinander mit mehreren «Big Saves» das 3:0 und damit die Entscheidung. Er hält seine Mannschaft im Spiel. Noch vor der ersten Pause haben die Berner zum 2:2 ausgeglichen. Die kritischste Phase ist überstanden. Es wird nichts mehr schief gehen. Den ZSC Lions gelingt später zwar noch der Ausgleich zum 3:3. Aber es gibt keine Zweifel mehr: Der SCB wird diese Partie gewinnen.
Es ist einfach, im Nachhinein, wenn wir wissen, wer gewonnen hat, solch provokative Thesen aufzustellen. Der Einwand ist berechtigt, ein Spiel auf spiegelglattem Eis sei nie berechenbar und ein Sieg der ZSC Lions wäre sehr wohl möglich gewesen. Und bei einem Sieg der Zürcher wäre der Meister arg in Bedrängnis geraten. Ja, wahrscheinlich hätte der SCB eine zweite Niederlage in dieser Serie nicht mehr aufgeholt und die ZSC Lions könnten, wenn sie den SCB aus den Playoffs kippen würden, sogar Meister werden. Die Serie steht 1:1. Es ist noch alles möglich.
Tatsächlich reden jetzt alle so. Wen man auch nach dem Spiel befragte, die Spieler, Sportchef Alex Chatelain oder gar SCB-General Marc Lüthi – in verschiedenen Worten übermitteln sie alle doch die gleiche Botschaft: Spiel für Spiel nehmen. Jetzt gut erholen. Schon am Samstag geht es weiter. Alles ist offen. Und so weiter und so fort. Sogar Leitwolf Tristan Scherwey, sonst durchaus ein verbaler Nonkonformist, sagt artig die Playoff-Sprüchlein auf, als sei er bei der Schlussfeier im Schulhaus Wünnewil.
Aber wir können alles «hätte», «wäre» und «könnte» vergessen. ZSC-Trainer Hans Kossmann hat alles richtig gemacht. Es ist eines dieser seltenen Spiele, für die auch der Verlierer Lob statt Tadel verdient. Taktische Fehler hat er keine gemacht. Keiner seiner Jungs hat versagt. Auch Torhüter Lukas Flüeler nicht.
Die Zürcher haben im richtigen Moment ihr bestes Hockey gespielt. Und sie hätten mit dieser Leistung in der zweiten Partie – sie spielten klar besser als beim 3:2-Sieg in Bern – jede andere Mannschaft gebodigt, vom Eis gearbeitet, überrollt, zermürbt. Aber nicht den SCB. Nicht Leonardo Genoni.
Nach dem 0:2-Rückstand ist der SCB im ersten Drittel des zweiten Halbfinalspiels endlich, endlich in den Playoffs angekommen. Und so hat sich eine der besten Partien dieser Saison entwickelt. Schnelles, präzises, intensives, wuchtiges, uriges, direktes Hockey. Von Norden nach Süden gespielt und nicht ständig quer und rückwärts und diagonal.
Dem SCB ist es im Hallenstadion gelungen, nach und nach sein Spiel und seine Identität zu finden und sich aus der Intensität der Zweikämpfe zu lösen, die Scheibe und die Gegenspieler laufen zu lassen, das Spiel in die Verteidigungszone des Gegners zu verlagern und die ZSC-Verteidiger unter Druck zu setzen. Ab dem Mitteldrittel bestimmte der SCB mehr und mehr Ebbe und Flut, Intensität und Tempo des Spiels.
Wenn die Lions alles richtig machen und am Ende doch in der Verlängerung verlieren, dann ist die Entscheidung gefallen. Der SCB wird ins Finale einziehen. So wie es Leonardo Genoni ganz offensichtlich nach dem zweiten Gegentreffer beschlossen hat. Und wenn der SCB im Finale steht, dann kann er auch Meister werden.
Und wenn alles ganz anders kommt? Keine Sorge, ein echter Chronist ist wie ein flinker Affe im Baum. Er findet immer einen Ast der Ausrede, um sich daran festzuhalten.