Gleich nach der Autobahn-Ausfahrt Landquart, dort wo die Fahrt hinauf in die Berge erst richtig beginnt, da stand er wie seit Anbeginn der Zeiten. Mindestens 20 Jahre lang. «Socka Hitsch» hatte am Strassenrand seinen Verkaufsstand für Socken und Hosenträger. In den letzten zwei Jahren habe ich vergeblich nach «Socka Hitsch» Ausschau gehalten. Er ist nicht mehr da. Ein Stück Romantik ist verloren gegangen.
Und nun steht auch Arno Del Curto nicht mehr auf der grossen Spengler Cup-Bühne. Zum ersten Mal in diesem Jahrhundert. Spätestens nach dem Eröffnungsspiel Magnitogorsk gegen Trinec wird dem Chronisten bewusst: die wahre Spengler Cup-Romantik gibt es nicht mehr.
Zum Auftakt gab es also Magnitogorsk gegen Trinec. Russen gegen Tschechen. Einst war diese Auseinandersetzung in Davos ein Gipfeltreffen des Welteishockeys.
Die Spieler, Trainer und Funktionäre aus der Sowjetunion (heute Russland) und der Tschechoslowakei (heute Tschechien) hatten in den 1980er Jahren nicht nur eine sportliche Magie. Eine noch viel grössere umwehte sie neben dem Eis. Denn sie waren… sprachlos.
Es gab während den Jahren des «Kalten Krieges», des Sozialismus, keine Erklärungen von Trainern, Manager oder Spielern aus dem Ostblock. Keine Kommunikation mit dem kapitalistischen Klassenfeind.
Zwei Drittel der Spengler Cup-Einsatzzeit verbrachte der Chronist mit dem Versuch, ein Interview mit einem der Hockeygötter aus dem Osten zu bekommen. Mit einem Trainer, Spieler oder doch wenigstens einem Funktionär. Ab und zu klappte es. Die Aussagen waren jeweils völlig harmlos und doch magisch. Denn es waren Worte aus dem Osten. Hockey-Gospel sozusagen.
Und heute, nach dem Untergang des Kommunismus? Auf einmal wird mir klar: Es ist inzwischen ja fast wieder so wie damals mit den Hockey-Göttern aus dem Osten, die nicht mit uns Erdlingen sprachen.
Ja natürlich, alle Trainer und Spieler und Funktionäre – auch jene der Mannschaften aus dem Osten – stehen heute nach jeder Partie brav Red und Antwort. Aber die Aussagen sind völlig harmlos. So wie damals die nach tagelangen Bemühungen ergatterten Erklärungen der Vertreter aus dem Ostblock.
Es ist nicht die Zensur, die heute alle Erklärungen «entkernt». Es ist die Schulung, die alle Jungs durchlaufen. Sie lernen reden, ohne etwas zu sagen. Sie sind alle porentief professionell, politisch korrekt und freundlich. Sie lassen sich, leider, leider, nur noch in Ausnahmefällen zu polemischen Aussagen provozieren. Medientechnisch haben wir sozusagen eine Renaissance des Sozialismus. Und nur so ganz unter uns: Eigentlich sind Spieler- und Trainerbefragungen nach einer Partie langweilig. Aber das darf man nicht sagen. Es wäre boshaft.
Mit Wehmut vermisse ich die wilde Romantik des letzten Jahrhunderts. Im Besonderen das Spengler Cup-Reizklima zwischen Weihnachten und Neujahr. Zwischen Kommerz und Kultur, zwischen Bett und Bar blühte einst eine ganz besondere Skandalkultur.
Ein Tag und eine Nacht sind mir ganz besonders im Gedächtnis haften geblieben. Weil das, was damals passiert ist, nicht geschrieben und nur erzählt werden durfte. Ein finnischer Star entging nur knapp dem weissen Tod und ein Kollege bewahrte einen tüchtigen finnischen Spieler davor, Gold in Alkohol zu verwandeln.
Kein anderer Zwischenfall der Spengler Cup-Geschichte ist so sorgfältig geheim gehalten worden wie der Skiunfall von Jokerit-Star Juha «The Bird» Lind am Silvestertag 1996.
Der damals 22-jährige finnische Center schwemmte am 30. Dezember in einer zünftigen Fete mit seinen Teamkollegen die verpasste Finalqualifikation weg. Zu später Stunde führte er mit Trockenübungen im Hotel «Europe» an der Pianobar zum Gaudi der Kollegen die Kunststücke vor, die er am nächsten Tag auf den Davoser Skipisten probieren wollte.
Er ging von der «Pianobar» am Silvestermorgen direkt in ein Sportgeschäft und mietete eine Skiausrüstung. Beim «Brämabüel» am Jakobshorn kam er von den markierten Pisten ab und konnte sich nicht mehr allein aus dem tiefen Schnee befreien. Er wäre, zumal alkoholisiert, innert kurzer Zeit erfroren.
An gleicher Stelle, abseits der markierten Pisten, war ein Jahr zuvor eine Deltaseglerin tödlich verunglückt und ihr Lebenspartner, ein geübter Skifahrer, suchte an diesem Silvester die Unfallstelle auf und fand den finnischen Nationalspieler. Lind entkam dem weissen Tod um ein paar Minuten, musste mit dem Helikopter ins Spital geflogen werden, wo die Ärzte eine Unterkühlung feststellten.
Als die Mannschaft am Silvesterabend nach Finnland heimreiste, hatte Lind immer noch nicht Betriebstemperatur. Auf eigene Verantwortung holte Präsident Harry Harkimo den coolen Lind um die Mittagszeit aus dem Spital, damit er mit seinen Teamkollegen um 17.00 Uhr heimfliegen konnte. Nur so konnte der Zwischenfall auch in der Heimat geheim gehalten werden. Da Juhas Vater Arvi Lind in Finnland ein bekannter TV-Moderator ist, hätte ein Bekanntwerden der ganzen Sache die Dimension einer Staatsaffäre bekommen.
Der «Alptraum» kam Lind noch einmal hoch, als ihm ein paar Monate später, während der A-WM 1997 in Finnland, ein vorwitziger Schweizer Reporter nach dem Training zurief: «Hallo, sind sie nicht der berühmte finnische Skifahrer?»
Aus der gleichen Nacht gibt es noch eine Episode,die wir immer wieder gerne erzählen. Juha Linds Teamkollege Waltteri Immonen – er war, wenn ich mich richtig erinnere, damals bei Jokerit Captain – hatte im letzten Spiel «Gold for the Best» gewonnen. Die Auszeichnung zum besten Spieler der Partie. Das war damals eine grosse Sache. Ein grosses helvetisches Geldinstitut spendierte dafür jeweils 20 Gramm echtes Gold.
Wie wir wissen, ging es in der «Pianobar» hoch zu und her. Und irgendwann war es an Waltteri Immonen, eine Lokalrunde zu spendieren. Aber er hatte kein Geld mehr bei sich. Nur noch die 20 Gramm Gold, damals mehr als 2000 Franken wert.
Er war gerade im Begriff, seine Lokalrunde mit diesem Gold zu bezahlen. Mein Kollege, noch heute ein grosser Freund der Finnen, löste das Problem, zahlte die Zeche und bewahrte den heutigen Trainer-Assistenten des EHC Kloten davor, teures Gold in billigen Alkohol zu verwandeln.
Tja, das waren noch Zeiten. Sie kehren nie wieder. Es bleiben nur noch die alten Geschichten, die wir gerne erzählen. Kein anderer Sport hat eine so hochentwickelte Kultur des «Storytelling» wie das Eishockey und kein anderer Sportanlass liefert uns seit 1923 so viele Geschichten wie der SpenglerCup. Geschichten, die über die Jahre immer schöner werden.
Übrigens: den «Socka Hitsch» gibt es offenbar immer noch. So jedenfalls habe ich in diesen Tagen erfahren. Er habe seinen Stand bloss wegen der umfangreichen Sanierung der Bahnlinie verlegen müssen. Ich habe also zu wenig intensiv nach ihm gesucht.
Vielleicht gibt es ja auch die Skandale noch. Der Chronist sollte nur intensiver danach suchen und wieder später zu Bett gehen. So wie es sich für den Spengler Cup gehört.