Wie gut waren die Schiedsrichter? Die Antwort auf diese Frage hatte in der Vergangenheit gleich nach dem Schlusspfiff meistens eine unsachliche, emotionale Basis: Sie wurde vom Publikum beantwortet. Gut waren die Schiedsrichter, wenn sie den Missmut der Zuschauerinnen und Zuschauer nicht erregt hatten. Und wann ist kein Missmut erregt worden? Wenn gegen das Heimteam nicht zu viele Strafen ausgesprochen worden sind. Das ist wahrlich eine unsachliche Beurteilung der Leistung.
Nun gibt es zum ersten Mal seit der Gründung der Nationalliga (heute: National League) vor 83 Jahren das Publikum nicht mehr. Zum ersten Mal keine Pfiffe für die Schiedsrichter. Keine dummen Sprüche auf der Tribüne. Keine unanständigen Sprechchöre. Kurzum: Keine Beeinflussung durch die Masse, der sich nicht alle ganz zu entziehen vermögen.
Statistisch lässt sich die neue Freiheit und Unbefangenheit der Unparteiischen noch nicht belegen. Zu jung ist die Saison. Aber der optische Eindruck von der Tribüne aus ist klar (die Chronistinnen und Chronisten dürfen ins Stadion): Noch nie hatten es die Schiedsrichter so gut.
Sie werden jetzt nicht mehr in die Rolle von «Hockey-Gottheiten» gedrängt, die mit ihren Entscheidungen scheinbar über Allem thronen, Schicksal spielen und scheinbar boshaft über Sieg und Niederlage entscheiden. Ihre «Richtsprüche» wecken nicht mehr Emotionen, Zorn oder Genugtuung von Tausenden von Männern, Frauen und Kindern in der Arena. Sie ähneln in den Arenen ohne Publikum eher Verkehrspolizisten, die an einer Kreuzung den Verkehr regeln. Und keinem Automobilisten fällt es ein, sein Missfallen mit der Verkehrsregelung durch Hupen auszudrücken.
Diese neue Rolle der Schiedsrichter ist mir bei den zwei Auswärtssiegen von Gottéron in Langnau (4:3 n.V.) und Bern (2:1) erst so richtig aufgefallen. Vom Verlauf her Hockeydramen. In vollen Stadien wäre es zweitweise emotional drunter und drüber gegangen. Vor allem beim Aufeinandertreffen der SCL Tigers und Gottéron. Letzte Saison setzte es in den vier Partien im Durchschnitt 24 Strafminuten ab. Am letzten Dienstag waren es nur noch 8. Auch bei Bern gegen Gottéron ging es nicht ganz so hitzig zu wie sonst. Bloss 8 Strafminuten. Letzte Saison waren es in den fünf Partien mit Publikum durchschnittlich 11,6.
Ungestört konnten die Schiedsrichter ruhig und gelassen ihres Amtes walten. Als in Bern Gottérons Spieler und Trainer Christian Dubé zum wiederholten Male lautstark eine Strafe reklamieren (was im leeren Stadion auf der Tribüne gut zu hören ist) kommt der Headschiedsrichter zur Bank, eine energische Handbewegung und ein paar klare Worte – und fortan ist Ruhe. Auf diese Weise wäre es nicht möglich, im grössten Hockey-Tempel Europas das Publikum zum Schweigen zu bringen.
Ein Trend, vorerst gefühlt, statistisch noch nicht für die ganze Liga belegbar zeichnet sich ab: Ohne Publikum schwindet das Element des «Bösen»: Die Lust an der Provokation, die Versuchung, die Schiedsrichter zu beeinflussen. Die Spieler akzeptieren die Entscheidungen der Spielleitung. Ohne zu Murren und mit der Körpersprache ihr Unverständnis auf dem Weg zur Strafbank zu dokumentieren und die Fans so aufzustacheln. Die gezielten Provokationen unterbleiben. Anders ist es fast nicht zu erklären, dass beispielsweise Chris DiDomenico in Langnau und in Bern seine Kreise nahezu ungestört ziehen konnte und in den zwei Partien zusammengezählt nur 2 Strafminuten zu verbüssen hatte.
Der Wettkampf zwischen Männern in ritterartigen Ausrüstungen, den Kanadas National-Dichter Al Purdy in den Stand einer Religion erhoben und als eine «Kombination aus Mord und Ballett» bezeichnet hat, wird wieder ein gewöhnliches Spiel. Ein unberechenbares zwar, weil auf glatter Unterlage ausgetragen. Aber ein Spiel. Vielleicht auch, weil in Zeiten der Krise und ohne Abstieg die Bedeutung von Sieg und Niederlage während der Qualifikation bei weitem nicht mehr so gross ist.
Die Mutmassung, dass der SCB gestern vor Publikum gegen Gottéron wohl nicht 1:2 verloren, sondern mindestens 3:1 gewonnen hätte, hat übrigens nichts mit den Schiedsrichtern zu tun. Die Berner treten, wenn sie in der grössten Arena Europas von ihren Fans unterstützt werden, grösser, wuchtiger, selbstsicherer, «böser» auf als sie eigentlich sind.
In einem gefüllten Hockey-Tempel hätten sie das Schlussdrittel bei 19:9 Torschüssen (das ist die offizielle Statistik) nicht 0:2 verloren. Angetrieben von ihrem Publikum hätten sie bei dieser Überlegenheit ihr Spiel mit so viel Leidenschaft, «bösen» Elementen und Wucht aufgeladen, dass Gottéron in der Schlussphase vom Eis gefegt worden wäre. Aber das ist natürlich reine Spekulation.
Die Bezeichnung «böse» ist bewusst in Anführungszeichen gesetzt. Denn das «Böse» weist, wenn es nicht übertrieben und im Rahmen der Spielregeln eingesetzt wird, nicht den Weg in die ewige Verdammnis. Das «Böse» ist in gewisser Weise so etwas wie die Würze des Spiels und, wie der zum Kulturpessimismus neigende Philosoph Emil Cioran einmal gesagt hat, «ansteckend und faszinierend».
Schön, dass wir wenigstens spielen dürfen. Erfreulich, dass es die Schiedsrichter – die auch diese Saison die Spiele sehr gut leiten – etwas leichter haben und etwas mehr Respekt geniessen.
Aber mit Publikum, mit Emotionen und etwas mehr Würze, wäre es halt noch schöner.