Oben auf dem Videowürfel purzeln die letzten Sekunden herunter. Mit Leidenschaft, Geschick und Glück (SCB-Pfostenschuss in der Schlussphase) hatten sich die Bieler «ins Eis gekrallt» und auch eine letzte Strafe gegen den mächtigen, druckvollen SCB überstanden. Es steht 2:2. Wenigstens ein Punktgewinn ist ganz, ganz, ganz nahe. Und das ist, so wie es gelaufen ist, schon ein Grund zum feiern.
Da schlägt der finnische Verteidiger Anssi Salmela den letzten Pass aus der eigenen Zone hinaus direkt in den Lauf von Toni Rajala. Ein, zwei Schritte läuft der Finne im gelben Ehrengewand des Topskorers über die blaue Linie. Er ist jetzt in der «tödlichen» Zone für den Torhüter. In his territory. Dort, wo er sich nun befindet, schiesst er am liebsten und gefährlichsten. Er holt mit dem Stock aus. Der Puck fährt dem machtlosen Niklas Schlegel (er ist an allen drei Gegengreffern unschuldig) wie ein Laserstrahl ins Netz. 17 Sekunden vor Schluss! Was für ein spektakulärer Schlusspunkt! Was für ein Jubel! Hat es je im ausverkauften neuen Bieler Hockey-Tempel einen solchen kollektiven Gefühlsausbruch gegeben? Nein.
Kari Jalonen nimmt sein Time-Out. Zehn Sekunden vor Schluss holt er noch den Goalie vom Eis. Es ist zu spät. Biel gewinnt 3:2.
Das 3:2 ist Toni Rajalas zweiter Treffer in diesem Spiel, der 10. der Saison. Er habe gar nicht gewusst, wie knapp die Zeit war. «Ich dachte, das Spiel dauert sicher noch mehr als eine Minute.» Das erklärt, warum er so eiskalt den Puck versenkt hat.
Ohne die ritterähnliche Ausrüstung wirkt er fast wie ein Bub. Er ist zwar 179 Zentimeter gross, aber nur 76 Kilo schwer. Eigentlich viel zu wenig robust für dieses raue Spiel zwischen starken Männern. Er hat nicht mehr Muskeln als ein Tänzer.
Wie kann es sein, dass ein so schmächtiger junger Mann eine so gewaltige Schusskraft zu entwickeln vermag? Er hat keine Erklärung.
Aber sein Captain Mathieu Tschantré hat eine: «Ich habe noch selten so einen Schuss gesehen wie bei diesem 3:2.» Das will etwas heissen. Er stürmt seit 20 Jahren für Biel. «Er hat schon einige solche Tore gemacht. Wie er das macht? Er hat eine unglaublich gute Schusstechnik , er ist selbstsicher und er glaubt an einen Schuss. Ich hätte es doch nie gewagt, aus dieser Position abzudrücken. Ich hätte abgebremst und den Pass auf einem Mitspieler gesucht…»
An den Schuss glauben. Das ist ein Ausdruck aus dem Eishockey und meint, dass man alles in einen Abschlussversuch investiert: Konzentration, Wille, Kraft. Er «explodiert» bei der Schussabgabe.
Bei Toni Rajala kommt noch etwas dazu: Er hat aus dem Lauf geschossen – er versteht es, das Tempo in den Schuss «mitzunehmen.» Geschwindigkeit sozusagen in «Schuss-Energie» umzuwandeln.
Eishockey ist das letzte echte Mannschaftspiel. Wenn es im Sport unfair, ungerecht, polemisch, ja respektlos ist, einen Sieg oder eine Niederlage an einem Spieler festzumachen, dann im Eishockey. Und doch müssen wir es für einmal tun. Ungern zwar. Aber um der Wahrheit willen. Einer ist tatsächlich an allem schuld: Andrew MacDonald.
Der SC Bern hätte diese Partie nicht verlieren dürfen. Das soll die Leidenschaft, mit der die Bieler für diesen Sieg gekämpft, gelitten, gezittert und gerungen haben, nicht schmälern. Aber es fehlten so viele Stürmer (Cunti, Brunner, Künzle, Gustafsson), dass sogar Verteidiger Stefan Ulmer in den Sturm aufrücken musste. Nur noch zwei Linien waren dazu in der Lage, gegen einen so gut organisierten Gegner Druck zu machen. Drei Tore gegen diesen starken SCB? Ja, aber unmöglich bei nummerischem Gleichstand.
Der SCB kontrolliert die Partie. Was sich statistisch belegen lässt: der Meister gewinnt das Torschussverhältnis 29:25. Unter normalen Umständen wäre daraus ein 3:1 oder gar 4:1 geworden.
Aber die Umstände sind in Bern im Herbst 2019 ein wenig aussergewöhnlich. Also nicht normal. Die Bieler verdanken ihren Sieg (wie gesagt, dass soll ihn nicht schmälern) auch einer schier unfassbaren Torheit der technischen SCB-Führung.
Wir müssen die Uhr ein wenig zurückdrehen. Bereits in der Saison-Vorbereitung wird für einen neutralen Beobachter klar, dass der finnische Verteidiger Miika Koivisto überfordert ist. Schon kurz nach Meisterschafts-Start wird in einzelnen Medien polemisiert. Aber auch SCB-Anhänger murren.
SCB-Manager und -Mitbesitzer Marc Lüthi ist ein kluger Kommunikator. Er wendet sich auf der klubeigenen Webseite regelmässig in einem Hirtenbrief an die SCB-Gemeinde. Um die Dinge rund um den SCB ins richtige Licht zu rücken.
Die Kritik am finnischen Fehleinkauf sticht ihm in die Nase. Und so schreibt er bereits am 2. Oktober an seine SCB-Kundschaft:
Kluge Worte. Wo der erfolgreichste Sportmanager Helvetiens recht hat, hat er recht.
In Biel bestreitet der SCB sein 15. Spiel. Und Miika Koivisto ist zum ersten Mal nicht dabei. In 14 Partien hatte er gerade mal 2 Assists gebucht und darüber hinaus eine Minus-Bilanz (-5). Marc Lüthi hat nach 14 Partien die Nerven verloren (ohne seine Zustimmung wird kein neuer Ausländer verpflichtet).
In Biel hat der SCB erstmals seinen neuen ausländischen Verteidiger eingesetzt. Andrew MacDonald (32). Er ist nach einer schwachen letzten NHL-Saison (kein Tor in 47 Partien) in Philadelphia ausgemustert worden und hat keine Arbeit mehr gefunden. Sein Agent hat ihn in ganz Europa angeboten.
Nur der tüchtige SCB-Sportchef Alex Chatelain hat zugegriffen. Den Vergleich mit der Titanic, die blind durch den Nebel dampft, machen wir nicht mehr. Narrenschiff ist passender.
Der SCB hat schon im Oktober ohne Not – keiner der vier bisherigen Ausländer ist verletzt – einen fünften Ausländer bis Saisonende auf die Lohnliste genommen. Warum nicht ein Try-Out? Wenn so gefuhrwerkt werden kann, muss die «Transferkriegskasse» beim SCB gut gefüllt sein. Keine Polemik. Es ist, wie es ist: Andrew MacDonald hat die Niederlage in Biel im Alleingang verschuldet.
Hatte seit Einführung der Playoffs (1986) je ein ausländischer Spieler, den der Sportchef in aller Ruhe aussuchen konnte (bis die Playoffs beginnen, dauert es ja noch gut vier Monate) einen so schwachen oder, fairer gesagt, so unglücklichen Einstand? Nein.
Andrew MacDonald ist in der aktuellen Verfassung (ich betone: in der aktuellen Verfassung – es ist nur eine Momentaufnahme) der langsamste ausländische Verteidiger der Liga. Bereits bei seinem ersten Einsatz kassiert er nach 66 Sekunden die erste Strafe (Vergehen: Halten). Biel erzielt das 1:0. Kurz vor der Pause muss er zum zweiten Mal auf die Strafbank (Vergehen: Halten). Biel erzielt das 2:1.
Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wären die tapferen Bieler ohne diese zwei Powerplays nicht in der Lage gewesen, im Startdrittel zwei Treffer zu erzielen. Sie werden nun bis in die letzte Minute, bis zum grossen Auftritt von Toni Rajala, auch kein Tor mehr zustande bringen. Weil der SCB keine weiteren Strafen kassiert.
In diesem Zusammenhang kann nicht oft genug betont werden: Im SCB-Maschinenraum gibt es keine grösseren Probleme. Die Mannschaft ist intakt. Chefingenieur Kari Jalonen sorgt für Ordnung. Es fehlt nicht an Fleiss, Wille, Leidenschaft und auch nicht an Talent und Erfahrung. Zum «Narrenschiff» wird der SCB durch die sportliche Führung.
Andrew MacDonald ist keine «Nullnummer». Er hat das Talent und die Erfahrung, um ein brauchbarer, robuster und vielleicht sogar dominierender Verteidiger zu werden. Aber er hat diese Saison vor dem Einsatz in Biel noch keinen Ernstkampf bestritten. Er braucht einfach Zeit, um sich an das grosse Eisfeld und eine der schnellsten Ligen der Welt zu gewöhnen.
Es ist eine Torheit sondergleichen, Andrew MacDonald so ins kalte Wasser zu werfen. Noch bevor er seinen Jetlag richtig ausgeschlafen hat. Die Verpflichtung des NHL-Veteranen ist an und für sich noch kein Fehler. Das überhastete Vorgehen hingegen schon und hat den SCB in Biel soeben drei Punkte gekostet.
Der SCB ist zwar in der Tabelle weit unter Wert klassiert. Aber nicht in Not. Die Mannschaft zeigt keine Zerfallserscheinungen und es hat nach den zwei Siegen im Cup (in Langenthal) und in der Meisterschaft (in Ambri) auch keinen Grund für Umstellungen gegeben.
Die Berner hätten mehr als genug Zeit, um ihre famose kanadische Neuerwerbung mit intensivem Training nach und nach auf Wettkampftempo zu bringen und ins System zu integrieren. Und Miika Koivisto weitere 14 Spiele Zeit zu geben.
Warum bloss diese Panik in der sportlichen Chefetage? Wohin sind Ruhe, Gelassenheit und das wohlüberlegte Handeln – eigentlich Merkmale der SCB-DNA – bloss entschwunden?
Selbst mit Miika Koivisto hätte der SCB in Biel gewonnen. Der Spruch ist alt (aus den Zeiten Napoléons) und böse, aber selten war er so treffend wie beim SC Bern im Oktober 2019: Der Trainer und seine Mannschaft sind Löwen, geführt von Eseln.
Aber Achtung: Es wäre fatal, den SCB zu unterschätzen. Selbst mit dieser sportlichen Führung ist eine Titelverteidigung möglich. Denn in der Kabine, an der Bande und auf dem Eis sind, wie gesagt, Löwen zugange.
Gegen Servette müsste es am Samstagabend eigentlich trotz allem zu einem Sieg reichen.
Irgendwie müssen sie sich ja an die hiesigen Gepflogenheiten gewöhnen, dass braucht ein paar Spiele.
Wohl eher ein 2:1.