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Kari Jalonens Männer blickten vom Feldherrenhügel des Selbstvertrauens weit ins gelobte Land der Meisterfeier hinein. Das erste und das zweite Finalspiel hatten sie bereits gewonnen und nun führten sie im Schlussdrittel der dritten Partie gegen Zug 1:0.
Ein weiterer Sieg und damit die Vorentscheidung im Finale 2017 war nahe. Zum Greifen nahe. Was sollte noch schiefgehen? Zug schien zum dritten Mal besiegt. Noch 4 Minuten und 51 Sekunden. Kein Problem. Schliesslich hatten die Berner in diesem Finale bei numerischem Gleichstand noch keinen einzigen Treffer kassiert. Die Zuger gaben zwar nicht auf, aber sie fanden einfach keinen Weg durch diese SCB-Abwehr. Wieder einmal schien sich zu bestätigen: Playoffhockey 2017 ist, wenn am Ende doch der SCB gewinnt.
Aber der SCB hat diese dritte Partie nicht gewonnen. 4 Minuten und 51 Sekunden vor Schluss trifft Lino Martschini zum 1:1 – und in der Verlängerung fädelt er nach 4 Minuten und 15 Sekunden das 2:1 von Reto Suri ein.
Es war, als sei der Geist von Arnold von Winkelried, der mythischen Gestalt der helvetischen Geschichte, in Lino Martschini gefahren.
So wie die alten Eidgenossen zu Sempach keinen Weg durch die dichten Reihen der Habsburger fanden und verzweifelten und sich schliesslich Arnold von Winkelried ein Herz fasste und die gegnerischen Reihen durchbrach, so überwindet Zugs offensiver Zauberzwerg nun das Bollwerk der Berner.
Sein Schuss fährt nach 55 Minuten und 9 Sekunden wie ein Blitz aus heiterem Himmel unhaltbar zum 1:1 ins SCB-Netz. Weil er die Scheibe nicht richtig getroffen hat, springt sie, von ihrer Rotationsenergie angetrieben, Leonardo Genoni aus dem Fanghandschuh. Lino Martschinis erster Treffer in diesen Playoffs. Sein erstes Tor nach 1030 Minuten.
Für Lino Martschini ist es der «Ketchup-Effekt»: Man kann an der Flasche rütteln und rütteln und rütteln und die Tomatensauce will nicht herauskommen. Aber auf einmal flutscht der Inhalt doch auf den Teller.
Er hat es versucht und versucht und versucht, nie den Mut verloren und nun hat er gleich eine Lawine losgetreten: das Spiel mit seinem Treffer ausgeglichen (1:1) und den Siegestreffer eingefädelt. Und Tobias Stephan hielt in diesem Finale erstmals nicht bloss wie ein sehr, sehr guter, sondern wie ein grosser, wie ein Meistergoalie.
Der SCB ist mit dieser Niederlage für das Spiel mit dem taktischen Feuer, für das – aus neutraler und nichtbernischer Sicht – unsäglich langweilige Resultathockey bestraft worden. Nach dem 1:1 gelingt es den Bernern nicht mehr richtig, das Spiel wieder zu beschleunigen, noch einmal aufs Gaspedal zu drücken. Sie gehen in der Verlängerung stehend unter.
Die SCB-Niederlage ist allerdings nicht ganz aus heiterem Himmel gekommen. Wer wollte, konnte die Vorboten nach dem zweiten Spiel, nach dem samstäglichen 4:2 der Berner in Zug erkennen.
Zug schien nach diesem 2:4 auf eigenem Eis besiegt. Der Final entschieden. Aber Trainer Harold Kreis sagte, man müsse nur so weitermachen wie bisher und brauche bloss ein bisschen Glück im Abschluss.
Verteidiger-Haudegen Timo Helbling war auch nach der zweiten Niederlage zuversichtlich und ging davon aus, dass seine Mannschaft bei gleicher Leistung die nächste, die dritte Partie gewinnen wird. Und er sagte, der SCB spiele mit seinem destruktiven Defensivhockey mit dem taktischen Feuer.
Es war offensichtlich: Die Zuger hatten das zweite Finalspiel, aber noch lange nicht den Mut, verloren. Der Chronist dachte allerdings: Es sind die Sprüche, die ein Verlierer in Zeiten der Playoffs halt machen muss.
Zweifel an der scheinbar klaren Ausgangslage kommen ihm erst, als er vor dem Spiel in Bern Dr. Saul Miller, den grossen Hexenmeister der Sportpsychologie trifft. Der Seelendoktor aus Amerika hatte letzte Saison den SCB auf dem Weg zum sensationellen Titel begleitet. Jetzt arbeitet er für Zug. Er gilt als bester Sportpsychologe der Welt.
Saul Miller personifiziert vor dem Spiel in Bern Zuversicht und Gelassenheit. Er sagt, er habe in den letzten zwei Tagen in aller Ruhe mit Lino Martschini und Tobias Stephan gesprochen. Und am Vormittag noch einmal zur ganzen Mannschaft. Eine gute Mischung aus Voodoo und Zuversichts-Yoga. «Meine Botschaft ist ganz einfach: Alles vergessen, was war und Spiel für Spiel nehmen.» Vor dem Spiel und in den Pausen spreche er nicht mehr mit den Spielern. «Die Kabine gehört dem Coach.»
Harold Kreis, Timo Helbling und Doktor Miller haben Recht bekommen. Zug ist unter dramatischen Umständen ins Finale zurückgekehrt. Statt 3:0 steht es nur noch 2:1 für den SCB.
Der SCB hätte es wagen können, die Zuger mit einem offensiven Feuerwerk den Atem, die Hoffnung, die Zuversicht, den Sauerstoff und den Sieg zu nehmen. Aber der grosse Bandengeneral Kari Jalonen scheut das Risiko. Er will wieder Hockey-Schach spielen. Er lässt seine offensive Reiterei absatteln, als defensives Fussvolk kämpfen.
Warum auch nicht? Gegen Biel und gegen Lugano ist dieses Spiel mit dem defensiven taktischen Feuer aufgegangen. Heisst es denn nicht, in den Playoffs triumphiere die Defensive immer über die Offensive?
Alles scheint erneut für den SCB zu laufen. Zugs Jarkko Immonen rumpelt David Jobin hinter dem SCB-Tor in die Bande. Der SCB-Verteidiger bleibt liegen. Der Pfleger eilt aufs Eis. Der 35-Jährige wankt scheinbar schwer verletzt vom Eis. Ist das sein Karriereende? Empörung im Stadion. Jarkko Immonen wird unter die Dusche geschickt. Elf Sekunden vor Ablauf der Fünfminuten-Strafzeit trifft Andrew Ebbett zum 1:0. Dieser Treffer scheint bereits die Entscheidung zu sein. Die Zuger haben ihren wichtigsten Zweiweg-Center verloren. David Jobin kehrt im Mitteldrittel ins Spiel zurück. Frisch und munter. 17'031 Zuschauer werden Zeugen einer Wunderheilung.
Aber dieses 1:0 wird dem SCB zum Verhängnis. Die Berner stürzen auf der Gratwanderung zwischen Selbstsicherheit und Arroganz ab. Bei den Zugern regt sich der «heilige Zorn», jene Leidenschaft, die nur erwacht, wenn alles verloren scheint.
Hätte der SCB gewonnen, dann wären hier Weisheits-, Lob- und Königspsalmen über den grossen Bandengeneral Kari Jalonen zu lesen. Seine taktische Schlauheit würde in höchsten Tönen gerühmt.
Aber Eishockey bleibt auch für die Grossen ein unberechenbares Spiel auf einer rutschigen Unterlage. Nun ist der grosse finnische Bandengeneral vorerst ins Niemandsland zwischen Aki Kaurismäki und Hollywood geraten.
Hollywood steht für den grossen, mächtigen charismatischen, glamourösen, meisterlichen SC Bern, der mit einem grandiosen offensiven Schauspiel seine Gegner vom Eis zu fegen vermag. Wie wir das im ersten Finalspiel (5:0) erlebt haben.
Aki Kaurismäki ist der kauzige finnische Kultregisseur, dessen Verlierer-Filme uns in die Abgründe der Selbstzweifel blicken lassen. Zur finnischen Hockeykultur gehören ja nicht nur grandiose Siege (wie die WM Titel von 1995 oder 2011), sondern auch krachende, traumatische Niederlagen, die landesweite Depressionen ausgelöst haben. Wie der WM-Viertelfinal von 2003 in Helsinki. Die Finnen führten gegen Schweden 5:1 – und verloren 5:6.
Ungefähr so wie dieses traumatische 5:6 von 2003 wäre für die Berner ein Untergang in diesem Finale gegen Zug. Kari Jalonen könnte dann mit seinem kantigen, trockenen Humor die Hauptrolle in einem Kaurismäki-Hockeyfilm übernehmen.
Doch die Zuversicht in Bern ist nach wie vor (zu?) gross. Der SCB gilt noch immer als 80:20-Favorit. Aber das war er auch 2012 nach einer 3:1-Führung im Finale gegen die ZSC Lions. Es schien damals unmöglich, diesen Vorsprung noch zu vergeigen. Der SCB hatte drei Matchpucks und zwei davon auf eigenem Eis. Dann verloren die Berner dreimal hintereinander, das 7. und letzte Spiel durch einen Gegentreffer zwei Sekunden vor Schluss und die ZSC Lions wurden Meister.
Die SCB-Meisterfeier 2017 findet frühestens am Samstag statt.