Der Chronist steht vor einer schwierigen Wahl. Soll er ins Flachland hinaus nach Biel fahren, um dort dem Ringen des alten (SC Bern) gegen den neuen (Biel) bernischen Titanen beizuwohnen? Oder durch die dunklen, bewaldeten Hügel nach Langnau ins tiefe Emmental, dorthin, wo ein taumelnder und stolpernder Riese (HC Davos) gegen das Sensationsteam der Saison (SCL Tigers) anzutreten hat?
Er entscheidet sich für die Reise nach Langnau. Ins Tal der heulenden Winde. Logisch. Ob Biel oder der SCB gewinnt, spielt ja eigentlich gar keine Rolle. Wenn hingegen Davos auch in Langnau verliert, lässt sich die Polemik verschärfen. Siegt entgegen allen Erwartungen der HCD, so gibt es über eine Wundertat zu berichten. Sozusagen eine Win-win-Situation.
Das Tal der heulenden Winde war schon oft ein Tal der phantastischen Wirklichkeiten. Hier gab es einst den letzten Titel einer echten Dorfmannschaft zu feiern. Der SC Langnau (heute SCL Tigers) holte 1976 den einzigen Titel mit Spielern, die bis auf zwei Ausnahmen (Ersatztorhüter Michael Horak und Drittlinienstürmer Heinz Huggenberger) alle aus dem Dorf stammten. Später die verrückten Abstiege bis hinunter in die erste Liga (und dort mit einem Schnitt von mehr als 4000 Fans) und die wundersame Wiederkehr ins nationale Spitzenhockey.
Zu jedem Heimspiel gehört heute ein Ritual. Wie sich einst die Bauern im Emmental vor der Predigt draussen vor der Kirche trafen, um das Weltgeschehen und die Preise für Faselschweine und Kälber abzumachen, so treffen sich heute die Chronisten so ungefähr eine Stunde vor dem Spektakel im Medienraum des hölzigen Ilfis-Tempels. Sie werden ganz in der Tradition der Emmentaler Gastfreundschaft mit feinen Sandwiches und würzigem Kaffee bewirtet.
So ist es auch vor dem HCD-Gastspiel. Eifrig und ernsthaft diskutieren die Chronisten (eine Chronistin war nicht dabei) über die Hockey-Weltlage im Allgemeinen und über den Zerfall des HC Davos im Besonderen. Es herrscht Einigkeit darüber, dass die «Ära Del Curto» in Davos nach 22 Jahren zu Ende geht. Die Frage wird aufgeworfen, ob wohl Arno Del Curto im Falle einer weiteren Niederlage (es wäre die achte in den letzten neun Partien) während der Nationalmannschaftspause seines Amtes enthoben wird.
Auch hoher Besuch ist da. Daniel Germann, die hoch angesehene Sport-Edelfeder der «Neuen Zürcher Zeitung», wird sich das Spiel in aller Ruhe ansehen. Er hat für die Sonntagsausgabe vom nächsten Tag bereits eine Doppelseite über die HCD-Krise verfasst. Der HCD-Zerfall ist halt DAS nationale Hockey-Medienthema.
Das Blatt mit den Mannschaftsaufstellungen wird dargereicht. Und sogleich hebt eine eifrige Diskussion um einen weiteren Fehlentscheid von Arno Del Curto an. Der HCD-Cheftrainer hat erneut Torhüter Anders Lindbäck nominiert. Wie kann er nur? Der Schwede hat am Vorabend gegen Zug acht (!) Tore kassiert. Bei einer hundsmiserablen Abwehrquote von sage und schreibe 78,95 Prozent. Absolut unverständlich! Jetzt müsste doch Gilles Senn eine Chance bekommen. Schliesslich ist er von Patrick Fischer für den Deutschlandcup aufgeboten worden. Ein ausländischer «Lottergoalie» wird einem helvetischen Nationalspieler und Mitglied des WM-Silberteams von 2018 vorgezogen. Niemand versteht das.
Der Mannschaftsaufstellung ist weiter zu entnehmen, dass der HCD nur noch zwei ausländische Spieler zur Verfügung hat. Anders Lindbäck und den schwedischen Stürmer Anton Rödin. Die Langnauer können auf vier fremdländische Stürmer zählen: Harri Pesonen, Chris DiDomenico, Eero Elo und Mikael Johansson. Am Vorabend haben die SCL Tigers auch in Ambri gewonnen. Der sechste Sieg in den letzten sieben Spielen, der vierte de suite.
Diese klare Ausgangslage beunruhigt allerdings einige Chronisten. Irgendetwas liegt in der Luft. Einer, der sonst immer ein «Zehnernötli» auf eine Niederlage der Langnauer wettet, damit er im Falle einer Niederlage einen schönen Trostpreis einkassieren kann, bietet nun an, im Falle eines Sieges «seiner» Langnauer zehn «Schtutz» zu zahlen. Mit der Begründung, er wolle heute für einmal grosszügig sein.
Ob so viel Selbstvertrauen gut ist? Hat nicht Jeremias Gotthelf, der Chronist mit Weltruhm, in seinen Schriften immer wieder vor Hochmut und Hoffart gewarnt?
Item, das Spiel beginnt und wer ein bisschen sensibel ist, spürt nach wenigen Minuten, dass im Tal der phantastischen Hockey-Wirklichkeiten wieder einmal ein Wunder geschehen wird.
Die Langnauer stürmen sofort vorwärts, rassig und selbstbewusst, beflügelt von den Rufen «Ho-Ho-Hopp Langnou». Aber ihrem Spiel fehlt die Genauigkeit, Wucht und Bissigkeit der letzten Partien.
Trotzdem kommen sie fast im Minutentakt zu Torchancen. Am Ende werden die Statistiker 47 Torschüsse notieren. Aber Anders Lindbäck, der Lottergoalie, wird zum Riesen mit tausend Händen, ähnlich den steinernen Gottheiten in indischen Tempeln.
Nach und nach weicht das Selbstvertrauen der Langnauer wie die Luft bei einem Reifen mit schleichendem Plattfuss. Ihr Spiel bekommt eine melodisch-melancholische Resignation wie die unnachahmliche Stimme der Kult-Stadionspeakerin Christine Nyffeler.
Das Unheil nimmt seinen Lauf. Die Paraden von Anders Lindbäck flössen seinen Vordermännern Mut und Zuversicht ein. Sie machen schliesslich aus lediglich 21 Abschlussversuchen vier Tore, eines sogar bei nummerischer Unterlegenheit.
Viele im Stadion erahnen die heraufziehende Niederlage schon nach dem ersten Gegentreffer. Am Ende gibt es keine Missfallenskundgebungen. Erstens gehört sich das nicht in Langnau. Und zweitens gönnt man Arno Del Curto den Triumph. Er geniesst auch in Langnau hohes Ansehen.
Hätte der Chronist diese Saison nur diese eine HCD-Partie gesehen, so würde er nun von einem Arno Del Curto auf dem Höhepunkt seines Schaffens berichten. Und rühmen, wie schlau seine Taktik war, wie clever die Davoser die Langnauer anrennen liessen, wie eiskalt sie diesen Gegner ausgekontert haben und wie folgsam die Spieler die Anweisungen ihres Chefs umgesetzt haben. Auch in seiner 22. Saison erreiche der 62-jährige Arno Del Curto seine Spieler. Seine Autorität erstrahle nach wie vor im höchsten Glanz. Ja, mit diesem HCD sei im nächsten Frühjahr im Ringen um die Meisterschaft zu rechnen. Und Langnau werde wohl die Playoffs wieder nicht schaffen.
Aber so ist es ja nicht. Es war nur ein wunderbarer Abend im Tal der phantastischen Hockey-Wirklichkeiten. Die SCL Tigers sind nach wie vor auf Platz zwei klassiert. So weit oben standen sie im November seit dem Wiederaufstieg noch nie. Der HCD bleibt hingegen auf Rang elf. Mit zehn Punkte Rückstand auf den «Strich». So schlecht klassiert waren die Davoser seit dem Wiederaufstieg von 1993 im November noch nie klassiert.
Langnaus Trainer Heinz Ehlers ärgert sich hinterher über die defensiven Leichtsinnsfehler und die unzähligen vergebenen Torchancen. Und hat dafür eine Erklärung. «Wir haben in den letzten Partien nur mit drei Linien gespielt. Das hat sich nun ausgewirkt.» Die Müdigkeit erkläre viele Fehler und die nachlassende Intensität im Spiel.
Wir können es noch einfacher sagen: Anders Lindbäck hat den Langnauern den Sieg gestohlen. Selbst im Falle einer guten Torhüterleistung hätte der HCD mit vier oder fünf Treffern Differenz verloren. Aber dem Schweden ist im Tal der phantastischen Hockey-Wirklichkeiten ein Jahrhundertspiel gelungen.
Was nun? Ist das die Wende für den HCD? Oder einfach ein Wunder, das sich so nicht wiederholen lässt? Arno Del Curto ahnt, dass es jetzt besser ist, nicht zu viel zu sagen. Fürs Fernsehen muss er zum Interview antreten. Das ist vertraglich festgeschrieben. Schliesslich zahlt der TV-Sender MySports über 30 Millionen Franken im Jahr für die Übertragungsrechte.
Aber wohlweislich stellt er sich nicht dem Kreuzverhör der Chronisten. Denn er weiss ja, dass er sich leicht zu Aussagen provozieren lässt, die sich vortrefflich dazu eignen, polemische Storys zu schreiben. Also sagt er: «Nein, heute nicht.» Er weiss auch, dass die Chronisten im Kabinengang darauf warten, dass er vom TV-Interview zurückkommt und ihn dann aufhalten werden. Doch durch diese hohle Gasse geht er nicht. Schlau nimmt er den Hintereingang, der auch zur HCD-Kabine führt.
Den Chronisten ist Arno Del Curto im Tal der phantastischen Hockey-Wirklichkeiten entkommen. Ob er mit dem HCD der Krise entkommen wird, ist hingegen nicht sicher. Was die NZZ in der heutigen Sonntagsausgabe über den drohenden HCD-Niedergang schreibt, gilt nach wie vor.