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EM 2016

Deutschland schlägt Italien und zieht in den EM-Halbfinal

Und dann gibt's kein Halten mehr: Deutschland steht im Halbfinal.
Und dann gibt's kein Halten mehr: Deutschland steht im Halbfinal.
Bild: Michael Probst/AP/KEYSTONE

«So ein Penaltyschiessen habe ich noch nie erlebt» – Deutschland besiegt den Italien-Fluch und stürmt in den Halbfinal

Der Angstgegner ist besiegt: Deutschland gewinnt erstmals an einem Turnier gegen Italien. Nach einem 1:1 nach 120 Minuten entschied ein spektakuläres Penaltyschiessen.
03.07.2016, 00:3903.07.2016, 10:05
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» Hier gibt's den Liveticker der Partie zum Nachlesen.

Am Ende von 120 mehrheitlich zähen, intensiven, mitunter dramatischen Minuten reduzierte sich der Klassiker zunächst auf ein Duell 5 vs. 5 und einen Showdown der vorübergehend Entnervten. Sechs der ersten zehn Schützen verschossen, unter ihnen Schwergewichte wie Bonucci, Müller und Schweinsteiger.

Erst in der Zusatzschlaufe des Penaltyschiessens kamen die Akteure primär auf deutscher Seite wieder zur Besinnung – Hummels, Kimmich, Boateng und Hector widerstanden dem immensen Druck, derweil Bayern-Keeper Manuel Neuer Darmians Schuss pariert und so die Halbfinal-Türe weit geöffnet hatte.

Das Penaltyschiessen in der Kurzversion.streamable

Ausgerechnet der Kölner Jonas Hector, erst seit August 2014 Bundesliga-Spieler und während Jahren von keinem DFB-Radar erfasst, stoppte Italien endgültig und verhinderte den fünften Erfolg Italiens gegen Deutschland in einem Knock-out-Spiel in Folge.

Schon vor dem dramatischen Höhepunkt hatten die Protagonisten beidseits schwer gelitten. Der auch sporthistorisch bedingt als Kampf der Giganten apostrophierte Vergleich kostete Kraft. Die im Schnitt drei Jahre jüngeren und etwas mutigeren Deutschen bemühten sich eine Spur mehr um eine Entscheidung innerhalb von 120 Minuten.

Die Stimmen zum Spiel:

Jonas Hector (Deutschland):

 «Ich bin überglücklich, wir sind auch mit etwas Glück eine Runde weiter. Es war ein sehr anstrengendes Spiel. Hinten haben wir wenig zugelassen, nach vorne hatten wir das eine oder andere Problem – auch weil die Italiener gut standen.»

Mats Hummels (Deutschland):

«Ich bin sehr, sehr erleichtert. Vor dem Penalty geht einem einiges durch den Kopf. Und Gigi Buffon war bei meinem Schuss noch mit den Händen dran. Das war ganz eng. Dass ich im Halbfinal gesperrt bin, ist bitter. Ich ahnte noch, dass die unberechtigte Gelbe Karte gegen die Slowakei noch weh tun könnte, und die heutige war auch nicht eindeutig. Ich weiss gar nicht, ob ich ihn berührte.»

Manuel Neuer (Deutschland):

«So ein Penaltyschiessen habe ich noch nie erlebt. Ich weiss nicht mal mehr, wie viele Schützen angetreten ist. Ich wusste über die Vorlieben der Italiener vom Punkt aus Bescheid. Die Schüsse in die Mitte hatten wir aber nicht auf dem Radar.»
Manuel Neuer lässt sich verdient feiern.
Manuel Neuer lässt sich verdient feiern.
Bild: Martin Meissner/AP/KEYSTONE

Joachim Löw (Trainer Deutschland):

 «Die Italiener sind sehr gut organisiert, aber sie sind auch durchschaubar. Sie wollen dich manchmal nach vorne locken, um dann zuzuschlagen. Ich glaube, wir konnten sie heute mit ihren eigenen Waffen schlagen. Im Penaltyschiessen war ich sehr entspannt. Für eine Party mit Helene Fischer ist es jetzt zu früh. Die Spieler brauchen Erholung, und am Donnerstag wollen wir das nächste Spiel gewinnen.

Leonardo Bonucci (Italien):

«Es tut weh, so zu verlieren, weil wir so viele Chancen hatten. Das Penaltyschiessen ist eine Lotterie, und die Deutschen hatten das bessere Ende für sich. Wir gehen erhobenen Hauptes. Wir hielten uns gegen den Weltmeister sehr gut, und ich bin glücklich, Teil dieser wunderbaren Gruppe gewesen zu sein.»

Antonio Conte (Trainer Italien):

 «Es tut weh, und es tut mir vor allem leid für die Jungs. Deutschland ist eine starke Mannschaft, aber wir auch. Ich bin stolz auf meine Spieler, die wirklich alles gegeben haben bis zum Letzten. Schade, dass wir so viele Penaltys verschossen haben.»

Flexibel und mit Nehmer-Qualitäten

Deutschland siegt im Turnier-Modus nicht nur öfter als die meisten übrigen Fussball-Nationen, die Nummer 1 der letzten WM ist auch ein Meister der Flexibilität und demonstrierte Nehmer-Qualitäten. Nach 16 Minuten verlor die Equipe von Joachim Löw verletzungsbedingt Sami Khedira, den neben Toni Kroos wichtigsten Mann für die spielerische Balance.

Bastian Schweinsteiger, in Rio vor zwei Jahren Held und Schwerarbeiter, in der bisherigen Kampagne aber nur noch ein Captain ausser Dienst, füllte die Lücke aus. Die umgruppierten Deutschen erkämpften sich nach langem Anlauf das 1:0 von Mesut Özil (65.), das ihnen erst in der 78. am Elfmeterpunkt (Bonucci) entglitt. Die Champions steckten alles weg – letztlich sogar drei Fehlschüsse im Penaltyschiessen.

Tempo nach dem Schachspielstart

Wenn sich in einem EM-Viertelfinal zwei vierfache Weltmeister begegnen, die sich in der Regel auch über ihre perfekte Organisation definieren und zwei unbestrittene Welttorhüter die Strafraumbeherrschung übernehmen, dann ist im Prinzip per se nicht mit einem grenzenlosen Spektakel zu rechnen.

Italien bot der DFB-Auswahl vor allem in den ersten 45 Minuten nahezu keinen Spielraum an. Und die Deutschen ihrerseits, in den vier Partien zuvor in der eigenen Zone makellos, hatten mit taktischen Retouchen die Mittelfeldachse zusätzlich stabilisiert und liessen sich zu keinem Zeitpunkt vom gefürchteten Überfallkommando um Graziano Pellè überraschen.

Rasenschach kommt in solchen Fällen deutlich vor rauschender Abendunterhaltung. Doch manchmal verändert eine einzige Szene alles, und die Vorgaben der Trainer verflüchtigen sich. Özils 1:0 (65.) beschleunigte den Spielfilm markant. Löws couragierte Elf legte sofort nach, Gomez zwang Buffon mit einem verwegenen Absatztrick zum ersten Big Save des Abends.

Özils 1:0 nach 65 Minuten.streamable
Buffon verhindert gegen Gomez das 0:2 und die fast sichere Niederlage.
streamable

Die «Squadra Azzurra» taumelte während rund zehn Minuten erheblich, der deutsche Aufschwung war greifbar. In jener Phase spürten sie mutmasslich jedes einzelne ihrer 325 Jahre des Line-ups. Ein Wimpernschlag fehlte zum Einbruch, ehe die angezählten Italiener unter Druck das Comeback inszenierten: Eine Unachtsamkeit Boatengs genügte, eine falsche Handbewegung reichte – Penalty, Leonardo Bonucci trat an, 1:1.

Boateng reisst die Arme in die Höhe wie ein Volleyballer am Netz: Penalty für Italien.
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Bonucci verwandelt den Penalty zum 1:1.
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Wieder eine taktische Anpassung

Bundestrainer Löw hatte anstelle des gegen die Slowakei starken Torschützen Julian Draxler Benedikt Höwedes in die Anfangsformation beordert. In der Abwehr setzte Löw damit wie beim 4:1-Sieg im Testspiel im März gegen die Italiener auf eine Dreierkette mit Höwedes, Jérôme Boateng und Mats Hummels.

Der Weltmeister-Trainer sah sich jedoch bereits nach 15 Minuten zu einem Wechsel gezwungen, da Sami Khedira wegen einer Adduktorenverletzung am linken Bein nicht mehr weiterspielen konnte. Für ihn kam Bastian Schweinsteiger aufs Feld, der sogleich von Neuer die Captain-Binde erhielt.

Jogi Löw musste wegen zwei Verletzungen viel umstellen.
Jogi Löw musste wegen zwei Verletzungen viel umstellen.
Bild: REGIS DUVIGNAU/REUTERS

Italiens Nationaltrainer Antonio Conte seinerseits liess seine Mannschaft wie in den vier EM-Spielen zuvor im bewährten 3-5-2-System agieren. Anstelle des angeschlagenen Routiniers Daniele De Rossi kam der 23-jährige Stefano Sturaro zu seinem vierten Länderspieleinsatz.

Deutschlands Gegner im EM-Halbfinal am kommenden Donnerstag in Marseille ist entweder der Gastgeber Frankreich oder das Überraschungsteam aus Island. Die letzte Viertelfinalpartie findet am Sonntagabend in Saint-Denis statt (21.00 Uhr). (ram/pre/sda)

Das Telegramm

Deutschland – Italien 7:6 (1:1, 0:0) n.P.
Bordeaux. 38'764 Zuschauer. SR Kassai (HUN).
Tore: 65. Özil (Hector) 1:0. 78. Bonucci (Handspenalty) 1:1.
Penaltyschiessen: Insigne 0:1, Kroos 1:1, Zaza (drüber), Müller (Buffon hält), Barzagli 1:2, Özil (Pfosten), Pellè (daneben), Draxler 2:2, Bonucci (Neuer hält), Schweinsteiger (drüber), Giaccherini 2:3, Hummels 3:3, Parolo 3:4, Kimmich 4:4, De Sciglio 4:5, Boateng 5:5, Darmian (Neuer hält), Hector 6:5.
Deutschland: Neuer; Höwedes, Boateng, Hummels; Kimmich, Khedira (16. Schweinsteiger), Kroos, Hector; Müller, Özil; Gomez (72. Draxler).
Italien: Buffon; Barzagli, Bonucci, Chiellini (121. Zaza); Florenzi (86. Darmian), Sturaro, Parolo, Giaccherini, De Sciglio; Eder (108. Insigne), Pellè.
Bemerkungen: Deutschland komplett, Italien ohne Candreva, De Rossi (beide verletzt) und Thiago Motta (gesperrt). 16. Khedira verletzt ausgeschieden. 72. Gomez verletzt ausgeschieden. Verwarnungen: 56. Sturaro (Reklamieren). 57. De Sciglio (Foul). 59. Parolo (Foul). 90. Hummels (Foul/im Halbfinal gesperrt). 91. Pellè (Foul). 103. Giaccherini (Handspiel). 112. Schweinsteiger (Unsportlichkeit).

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91 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Pana
03.07.2016 00:02registriert Juni 2015
Die 4/5 Quote der Schweizer Penalties hätten gegen Deutschland und Italien locker gereicht. Damn you Polen.
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Bijouxly
02.07.2016 21:28registriert Dezember 2014
So viele Schwalben aber Edder wird fast die Nase gebrochen und der macht keinen Wank :D
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FrancoL
03.07.2016 00:15registriert November 2015
Ich gebe nicht gerne die Schuld einer Person, aber heute ist es offensichtlich dass Trainer Conte einen Anfängerfehler gemacht hat. Man schickt nicht einen Stürmer der einen Penalty schiessen muss 30 Sec vor Schluss aufs Feld ohne dass er auch nur einen Ball vernünftig hätte spielen können, der erste Kontakt war der Penalty. Dämlicher Fehler für einen Startrainer.

Aber die Deutschen haben es grundsätzlich verdient, haben mehr fürs Spiel gemacht und das Glück damit verdient.
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