Es war zum Haareraufen. In vielen seiner 44 Länderspiele, in denen Breel Embolo einfach irgendwie verloren ging. Oder schon zu Beginn verloren war, weil er gar nie ins Spiel fand. Es war auch zum Haareraufen gegen Wales, in dieser vielleicht wegweisenden Auftaktpartie der EM. Embolo war nirgends, verloren, wieder einmal. Das einzige Lebenszeichen kam vor der Pause, als er Haris Seferovic den Ball auflegte und dieser aus nächster Distanz über das Tor schoss. Im Nachgang wuchs auch bei Embolo die Überzeugung, dass er sich vor der Passabgabe hätte fallen lassen sollen, so sehr hatte der walisische Gegenspieler an seinem Trikot gerissen. Aber 90 Kilogramm überlegen es sich zweimal, ehe sie auf den Boden plumpsen.
Das Hadern mit Embolo ging weiter, aber dieses Mal war es ein «Wow». Wie sich der Stürmer nach der Pause durch die gegnerische Abwehrreihe tankte, war bemerkenswert, vielleicht ein Hauch von Weltklasse gar. Allein, das Tor fehlte, das diese Aktion belohnte. Es folgte bei Fuss und mit Embolos Kopf - und das Bewusstsein war da: Das ist der Breel Embolo, den die Schweizer sehen wollen. Den sie brauchen. Man hatte sich doch so viel von ihm versprochen. Wobei dem Spieler selbst das meist nicht so recht war.
Embolo war in diesen zweiten 45 Minuten förmlich explodiert, er hatte den schweren Rucksack, den er immer mit sich zu tragen scheint, in der Kabine gelassen. Embolo war nun der klar beste Spieler auf dem Platz und blieb es bis zum Schluss. Er sagte:
Dass es am Ende nicht zu drei Punkten gereicht hatte, war auch Goalie Ward geschuldet, der seinen letzten Kopfball über die Latte gelenkt hatte.
Und doch wirkte es im Spiel gegen Wales, als nehme Embolo die ganze Schweizer Mannschaft auf seinen Schoss. Als trage sie der 24-Jährige ganz allein. Dabei war es doch stets Embolo, der das Nationalteam als seinen Hort, ja sogar Zufluchtsort sehen musste und Nationaltrainer Vladimir Petkovic als eine Art Vaterersatz, der zu ihm hielt. Zu oft rückte der Offensivspieler mit Problemen im Klub ein. Die drei Jahre auf Schalke taten ihm nicht gut, auf dem Preisschild sollen 30 Millionen Franken gestanden haben, es wirkte lähmend, hinzu kamen schwere Verletzungen.
Erst 2019 mit dem Wechsel zu Gladbach fand Embolo zurück zu seinem Glück, das in diesem Jahr wegen einer ominösen Nacht in Essen und in der Badewanne wieder zu verlieren gehen schien. Der Aufschrei war gross, Embolo, ein Mann der Öffentlichkeit, hatte die Coronaregeln gebrochen, der Boulevard wetzte seine Messer. Es gab eine Busse, doch im Nachgang des Vorfalls stellten sich alle, der Klub und der Schweizer Verband, vor ihren Spieler. Interviews gab Embolo keine mehr, zumindest nicht zu diesem Thema und zu privaten Dingen. Doch hemmenden Einfluss, so sah es zumindest auf dem Platz aus, hatte der Vorfall: Im Klub mit Ausnahme der Partie gegen Bielefeld (2 Tore), in diesem Länderspieljahr.
Basels früherer Präsident Bernhard Heusler hat einmal gesagt: «Sein Talent und sein Charakterzug, so authentisch zu sein, das ist es, was die Leute fasziniert. Er hat nichts Abgehobenes, und das macht ihn zum Star und Liebling der Fans.» Nun, Embolo hat bis heute nichts Abgehobenes an sich, aber die Nahbarkeit ist ihm abhandengekommen. Wie das Unbekümmerte, das Lausbübische. Sein Talent faszinierte schon lange nicht mehr, und seine Träume der Kindheit, die sich jetzt erfüllten, wurden bald einmal als Schäume abgetan. Es war eher ein Gefühl der Verzweiflung, das ihn begleitete. Zu überschaubar war seine Anzahl guter Länderspiele und ist es immer noch, das beste war vor knapp fünf Jahren gegen Portugal und Embolo damals: 19 Jahre alt.
So wirkte sein Auftritt in Baku wie eine Begegnung mit seinem Alter Ego, mit dem früheren Ich, das sich gerade neu beschnuppert. Und sich an die alten, guten Tage erinnert. Sie hatte der Schweizer mit kamerunischen Wurzeln bereits als 16-, 17-Jähriger in Basel, dort schien die Sonne unentwegt, er war der Liebling der Fans. Vielleicht geht sie ja an dieser paneuropäischen EM für den drittjüngsten Debütanten in der Geschichte des Schweizer A-Nationalteams gerade wieder auf.
Seit Kubilay Türkyilmaz hatte die Schweiz nicht mehr einen solchen Stürmer gesehen, mit so viel Schussgewalt, Wucht, Dynamik und Präsenz, mit einer solchen Leichtigkeit aber auch. Embolo gibt ihr nun wenigstens zwei Dinge zurück: Er lässt sie hoffen für das Turnier, und er lässt sie hoffen, dass es doch noch gut kommen möge mit ihm und der Nationalmannschaft. Mit all den Visionen und schönen Dingen, die man in ihn hineinprojeziert hatte. Womöglich ist es dieses Mal ja gerade Embolo, der die Schweiz nach der Enttäuschung gegen Wales aufrichtet für das Italien-Spiel. Die erste Seite des Buches, das Petkovic an dieser EM schreiben wollte, hat jedenfalls Embolo gefüllt. (aargauerzeitung.ch)