Es ist zwei Uhr nachts. Und komplett hell. Mitten im Ausgehviertel, in der Austurstraeti, ertönt zwischen Bierflaschengeklapper und Tanzmusik der Schlachtruf. Nachtschwärmer haben sich zum spontanen Fanpulk formiert, die Hände in der Höhe, klatschen und rufen immer wieder: «UHH, UHH, UHH!»
Spätestens seit dem Island-England-Spiel kennen alle den Schlachtruf der Isländer. Nach dem Match stand die Mannschaft angeführt vom vollbärtigen Captain Aron Gunnarsson in einer Ecke des Stadions. Die Blicke trotzig und bestimmt. Gemeinsam mit den Fans stimmten sie den Schlachtruf an. Eine Mischung aus Bewunderung und Furcht durchrieselte die Zuschauer. Die ganze Welt wurde Zeuge: Die Wikinger sind wieder da!
Gibt es einen besseren Zeitpunkt um dahin zu fahren, wo sie herkommen? Das macht uns auch Stadtführerin Sara noch einmal bewusst: «Das Spiel gegen Frankreich ist ein historischer Moment.» Sie hält ein Schwarz-Weiss-Bild in die Höhe. «Das ist Reykjavík um 1801. 302 Leute haben damals hier gelebt. Schaut genau hin. Von hier kommen die Leute, die am Sonntag Frankreich schlagen werden», sagt die 36-Jährige bestimmt und als ob es daran nichts zu rütteln gebe.
Den Grund, warum die Isländer gerade die EM rocken, liefert Sara bei ihrer Stadtführung immer wieder. «Wir sind Wikinger!» Die Isländer seien sehr stolz, echte Wikinger zu sein. Auch wenn es das schlimmste aller Völker sei, schiebt sie gleich etwas sarkastisch nach. Aber deswegen seien sie so stark und unabhängig. Und genau deswegen hätten sie auch England an der Fussball-EM geschlagen.
Island brennt. Also eigentlich Reykjavík. Denn zwei Drittel der Gesamtbevölkerung Islands lebt im Grossraum der Hauptstadt. Mitten in der Stadt wurde der Skatepark zum Public Viewing umfunktioniert, die wenigen Autos halten auf der Strasse, um einen Blick auf den Screen zu erhaschen.
Doch der Platz, der alle Fussball-Hungrigen vereint, ist Arnarhóll. Der Adlerhügel. Die Hauptstrasse unterhalb wird heute wie schon beim Triumph gegen England gesperrt sein, die Leinwand noch einmal etwas grösser. Auf dem Rasen stehen die Fans. Am Montag feierten um die 15'000 ihre Helden. Heute Abend werden 20'000 erwartet. «Geht ein paar Stunden früher hin», rät Sara. Früher hätte man auch bei den Trikots sein sollen. Die haben nämlich längst Kultstatus und sind in Reykjavíks Shops längst komplett ausverkauft.
Das Team des bevölkerungsärmsten Teilnehmerlandes der EM-Geschichte hat sein Land ins Fussballfieber gestürzt und den Siegesdurst in die Höhe gekickt. Und das, obwohl sie vorher gar nicht so «into Football» waren, wie Einar sagt. «Vorher waren wir eine Handball-Nation, im Fussball nicht wirklich gut», erklärt der Grafikdesigner in der – wie bezeichnend – Viking Bar. Aber seit dieser EM fiebern alle mit. Auch die Parkettverkäuferin Gudrun.
Vor der EM war sie gar nicht Fussball-interessiert, jetzt fachsimpelt sie über Taktikwechsel und Mannschaftsaufstellung. Ihr Freund Antoine interpretiert das Fussballmärchen nach der Finanzkrise 2008 sogar als Balsam für die isländischen Seelen: «Wir waren alle down. Jetzt sind unsere Herzen explodiert. Die Leute tanzen auf der Strasse und umarmen sich.»
Heute um 19 Uhr nach isländischer Zeit trifft sich die halbe Insel auf dem Adlerhügel. Darunter auch französische Touristen. Zwei davon sassen gestern entspannt im Café. Die Frage, wer gewinnen wird, fanden sie fast beleidigend. Natürlich werde Frankreich gewinnen. Eines ist sicher: Ihr «Allez Les Bleus»-Gesang wird heute auf dem Adlerhügel vom Schall der UHH-Rufe verschluckt werden.