«Gerard Houllier sagt, ich sei wie ein schöner Artikel, der noch nicht fertig geschrieben ist. Und er hat recht. Da kommt noch mehr.» So antwortete Steven Gerrard während der Saison 1999/2000 auf die Frage, wo er sich in fünf oder zehn Jahren sieht. Damals stand der Mittelfeldspieler gerade in seiner zweiten ganzen Saison mit Liverpool, Houllier war sein Trainer.
Nochmals fünf Jahre früher wurde Gerrard erstmals in einem offiziellen Spiel des FC Liverpools erwähnt, wie Liverpools Archivar Jonny Stokkeland erzählt. Er wurde am 9. Mai 1995 mit einem «B-Team» gegen Manchester United eingewechselt. Gerrard war 14. Die meisten seiner Mitspieler 17 bis 19.
Gestern, fast auf den Tag genau 20 Jahre später, nimmt Steven Gerrard Abschied von der Anfield Road. Es scheint, als will sich selbst die Stadt standesgemäss von seiner grössten Legende – neben den Beatles – verabschieden. Die Hafenstadt in Nordengland strahlt im Sonnenschein. Es bläst zwar ein kühler Wind, aber die ersten Sommergrüsse sind dank der knappen Kleidung der Einheimischen unübersehbar.
Schon kurz nach dem Mittag warten einige Dutzend Fans – vor allem asiatischer Herkunft – vor dem «Hope Street Hotel», wo Liverpools Team am frühen Nachmittag von der Innenstadt Richtung Stadion abfahren wird. Am Ende der Strasse thront knapp 200 Meter entfernt die imposante Kathedrale Liverpools. Für viele Leute ist sie heute zweitrangig. Sie sind wegen Gerrard hier.
Später warten Hunderte vor dem Stadion, um die Mannschaft zu begrüssen. Direkt nach Trainer Brendan Rodgers steigt Steven Gerrard aus dem Teambus. Der Lärmpegel steigt, doch er bleibt irgendwie bescheiden. Denn alle müssen diesen Moment, dieses letzte Mal, welches Gerrard vor einem Spiel zur Anfield Road kommt, mit ihren Mobiltelefonen festhalten. Irgendwie schade. Gerrard scheint das nicht zu kümmern. Er winkt kurz und verschwindet entschlossenen Schrittes in den Katakomben.
Er habe diesen Tag gefürchtet, gestand der fast 35-Jährige bei seiner «Farewell»-Pressekonferenz an Auffahrt. Es werde emotional. Dies bewahrheitet sich wenig später im Stadion. Mit gebührendem Abstand rennt der Captain beim Aufwärmen als erster auf das Feld. 50 Meter hinter ihm folgt das Team. Der Extra-Applaus soll ihm gehören. Erstmals gibt es Hühnerhaut in der erst halbvollen Arena.
Das Duo Extra-Applaus und Hühnerhaut hat bis zum Spielbeginn noch einige Male seinen Auftritt. Die Aufstellung dröhnt über die Lautsprecher. Gerrard wird mit einer künstlerischen Pause erst ganz am Schluss begrüsst – Extra-Applaus/Hühnerhaut. Die Spieler kommen zum Abschluss des Aufwärmens in die Ecke vor der legendären Kop-Tribüne – Extra-Applaus/Hühnerhaut. Gerrard geht kurz zum Flash-Interview mit Jamie Carragher bei Sky Sports – Extra-Applaus/Hühnerhaut. Vor dem Spiel kommt Gerrard mit seinen drei Töchtern durch einen Spalier aufs Feld – Extra-Applaus/Hühnerhaut. Fanlieder auf Gerrard werden angestimmt – Extra-Applaus/Hühnerhaut. You'll Never Walk Alone wird gesungen – Extra-Applaus/Hühnerhaut. Die kleinste Tochter muss sich die Ohren zuhalten. Der Trubel scheint ihr zu viel zu sein.
Während dem Spiel bleibt es dann eher ruhig. Gelegentlich wird der «Captain Fantastic» gefeiert, doch der Spielverlauf killt die Stimmung. Crystal Palace führt 2:1. Und als Gerrard sich tief in der zweiten Halbzeit einmal beim Schiedsrichter beschwert, verhöhnen ihn die Gäste-Fans lautstark. Die Reaktion im Rund: Schweigen.
Ironischerweise startet die Abschiedsparty erst mit dem Genickbruch – dem 3:1 kurz vor Schluss. Ab jetzt dröhnt es die restlichen Minuten bis zum Schlusspfiff aus fast 40'000 Kehlen:
In seinem 2012 publizierten Buch «My Liverpool Story» schrieb er, es sei das Grösste für ihn, wenn die Fans seinen Namen rufen: «Beim ersten Mal haute es mich fast um.» Dabei sei er doch nur «der Junge aus der Region, der beim Fussball 100 Prozent geben will», wie er im Matchprogramm zu seinem Abschiedsspiel erklärt. Auch jetzt macht er das wieder. Beim Stand von 1:2 vergibt er zweimal aus ziemlich guter Position, einmal spitzelt er mit letztem Einsatz Jordan Henderson den Ball im Strafraum zu, einmal grätscht er das Leder im Sechzehner zurück.
Es gibt Applaus, aber irgendwie ist dieser Tag etwas typisch für die Karriere von Gerrard. Es ist zwar alles super und er erreicht mehr, als dass sich die meisten Fussballer je erträumen könnten. Doch das i-Tüpfelchen fehlt. In der Karriere ist es der englische Meistertitel oder die Chance, seine Laufbahn mit dem FA-Cup-Final an seinem 35. Geburtstag zu krönen. Beim Abschiedsspiel vom Heimpublikum fehlt der Sieg und ein persönliches Tor. Man hätte es ihm so gewünscht, dass er noch einmal unnachahmlich aus 25 Metern den Ball ins Tor drischt, einen Freistoss verwandelt, einen Kopfball versenkt oder doch wenigstens einen letzten Elfmeter verwertet. Es soll nicht sein.
Says it all.
#ThanksStevie
@PakReds @PakistanLFC @LFC pic.twitter.com/TqykflJUum
— Adnan Ahmed (@Adnan_Ehmed) 16. Mai 2015
Trotzdem wird Stevie G. nach dem Schlusspfiff auf der Ehrenrunde ausgiebig gefeiert. Tränen fliessen bei ihm nicht, doch bei so manchem Zuschauer, als er sagt: «Ich bin am Boden zerstört, dass ich hier nie mehr für Liverpool spielen kann.» 17 Jahre lang blieb er dem Verein, seinem Verein, treu: «Als ich das erste Mal hier spielen durfte, ging für mich ein Traum in Erfüllung. Alles was danach kam, war wie ein Bonus.»
Dieser endet um Punkt 20.01 Uhr Lokalzeit über eine Stunde nach Spielschluss, als Gerrard sich nach unzähligen Fotos in die Katakomben aufmacht und den Anfield-Rasen ein letztes Mal verlässt. Noch stehen Hunderte Fans um den Spielereingang, einer wirft ihm seinen Schal zu, als ob er ihm sagen wollte: «Ohne dich ist Liverpool nichts mehr wert.»
Vielleicht ist es aber auch genau anders herum. Denn Steven Gerrard ist Liverpool. Trainer Brendan Rodgers schreibt im Matchprogramm, dass ihm die Frage, ob er Gerrard in einem Wort beschreiben könnte, immer wieder gestellt werde. Und nach langem Überlegen sei er zum Schluss gekommen, dass nur ein Wort passt: Liverpool.
Aus dem von Houllier genannten «schönen Artikel, der noch nicht fertig geschrieben ist», wurde viel mehr. Es wurde ein dickes Buch. Ein packender Thriller mit Hochs und Tiefs. Eine Liebesgeschichte. Eine Ode an einen Verein. ein Standardwerk in Sachen Treue und Hingabe. Und Gerrard erklärt selbst: «Ich werde in irgendeiner Form zum Verein zurückkehren.» Viele hoffen als Trainer. Wir freuen uns auf Fortsetzung. Irgendwann.