Vor unseren Augen entrollt sich ein grandioses Schauspiel. Aufstieg und Sturz eines Fussball-Sonnenkönigs. Verrat und Treue. Eine epische Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse. Tolstois Krieg und Frieden, aufgeführt im grossen Fussball-Welttheater. Noch in Jahrzehnten werden wir uns an dieses grosse, shakespearesche Sportdrama erinnern.
Sturz des Fussball-Sonnenkönigs? Vielleicht freuen sich Sepp Blatters Gegner zu früh. Er hat sein Amt ja bloss zur Verfügung gestellt. Populistisch formuliert ist das zwar ein Rücktritt. Ein Verzicht auf Amt und Ehre. Das Ende einer Karriere.
Aber wenn wir ein wenig in den Geschichtsbüchern blättern und uns genauer mit der Architektur der Macht und der hohen Kunst des Machiavellismus befassen, dann erkennen wir: Möglicherweise ist es nicht das Ende. Sondern nur ein schlaues, beinahe diabolisches Manöver, um die Macht zu behalten, ja, zu festigen.
Nach wie vor ist Sepp Blatters Weste im Sinne eines Rechtsstaates blütenweiss. Nirgendwo auf der Welt haben Ermittler bisher Material gefunden, um Anklage gegen ihn erheben zu können. Erst die öffentliche und veröffentlichte Meinung hat Sepp Blatter lebenslänglich verurteilt. Rücktrittsforderungen wie etwa jene der EU-Bürokraten kann Blatter ignorieren. Wir entnehmen ja den Medien regelmässig, wie bei dieser Organisation Millionen von Steuergeldern versickern.
Zurücktreten und dann umso mächtiger zurückkehren («Reculer pour mieux sauter») ist in der Geschichte durchaus schon vorgekommen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Zar Ivan («der Schreckliche»), der Begründer des russischen Imperialismus, dankte ab und zog sich ins Kloster zurück. Ein Jahr später kehrte er zurück – und eroberte gar noch Sibirien.
Nun wollen wir Sepp Blatter nicht etwa mit Ivan dem Schrecklichen vergleichen. Da sei Gott davor! Es geht nur darum, aufzuzeigen, wie Machterhaltung eben auch funktionieren kann. Einen taktischen Rücktritt dürfen wir Sepp Blatter durchaus zutrauen. Er gilt immerhin als einer der grössten Machiavellisten der Sportgeschichte.
Und ist nicht auch Napoléon 1815 völlig unerwartet aus seiner Verbannung auf Elba im Triumphzug zurückgekehrt und wieder Regierungschef in Frankreich geworden? Möglich war damals dieses Comeback nur, weil die Feinde der Franzosen es einfach nicht für möglich hielten, dass Napoléon wiederkehren könnte.
Wenn gegen Sepp Blatter keine Anklage erhoben wird – aber nur dann – ist es durchaus möglich, dass er beim ausserordentlichen Kongress im Dezember, wenn eigentlich sein Nachfolger gewählt werden sollte, wieder antritt. Das halten inzwischen selbst höchstrangige internationale Sportfunktionäre für möglich. Ja, sie trauen es Sepp Blatter zu. So gesehen ist die US-Justiz der einzige Gegner, den Blatter wirklich fürchten muss.
Die Frage ist ja auch: Gibt es denn irgendjemanden, der Sepp Blatter erfolgreich herausfordern kann? Eine Persönlichkeit, der nicht der Schwefelgeruch der Korruption, des Mischelns aus den Kleidern dampft. Eine Persönlichkeit auch, die sicher sein kann, dass es kein belastendes Material gibt, das der allwissende Sepp Blatter im richtigen Moment irgendeinem Medium zustecken könnte. Eine Persönlichkeit, die sich für dieses Abenteuer erst einmal zur Verfügung stellen, portiert und gewählt werden muss. So eine Frau oder so ein Mann ist noch nicht in Sicht.
Und oft geht vergessen: Jene, die Sepp Blatter soeben glanzvoll für eine weitere Amtsperiode gewählt haben, werden auch bei diesem Kongress wieder wählen. Die Fussball-Landesfürsten lebten unter Sepp Blatters Herrschaft seit 1998 in blühenden Fussball-Landschaften. Sie haben eigentlich keinen Grund, einen neuen Präsidenten zu wählen. Die Lust an einer Erneuerung dürfte gering sein. Und nur die FIFA-Delegierten entscheiden darüber, wer die FIFA führt. Nicht die Medien, nicht irgendwelche Politiker.
Eine Chance zur Erneuerung der FIFA wäre eigentlich, wenn Sepp Blatter unter dem Schutz der Kronzeugenregelung bei der Justiz auspackt und eine lückenlose Aufarbeitung aller Vorfälle provoziert. Dies käme einer Ausräucherung des FIFA-Fuchsbaues gleich und würde Sepp Blatters Ruf in der Fussballwelt über hundert Generationen ruinieren.
Es gibt aber auch eine andere Variante. Sepp Blatter kann die Zeit bis zum Wahl-Kongress als Reformer nutzen, um die schwarzen Schafe selber aus der grossen FIFA-Herde auszuschliessen bzw. ausschliessen zu lassen. Als guter, fürsorglicher Weltfussball-Hirte kennt er sicherlich die Farbe seiner Schafe und Böcke und die Futtertröge, an denen sie sich laben. Und auch alle, die diese Futtertröge füllen.
Aber eigentlich sollte Sepp Blatter, wenn er seine Präsidentschaft beim Kongress verteidigen kann, dann tatsächlich zurücktreten. Er könnte seine Nachfolgeregelung so steuern, dass die Macht in die Hände eines Kandidaten übergeht, den er selber ausgesucht hat und der auch den Ansprächen jener gerecht wird, die Sepp Blatter gewählt haben.
Ach, es wäre ein Moment für die Weltgeschichte: Sepp Blatter bedankt sich nach einer erneuten Wahl für das Vertrauen. Anschliessend verzichtet er definitiv auf das hohe Amt und verlässt zu den Klängen des Triumphmarsches von Giuseppe Verdi den Saal. Er marschiert zu den Klängen dieser opulenten, mit Trompeten-Fanfaren aufgeladenen Bühnenmusik aus dem Saal und geradewegs zu ewigem Ruhm. Vielleicht könnte auf diese Weise sogar sein Traum vom Friedens-Nobelpreis doch noch in Erfüllung gehen. Er hätte diese Auszeichnung trotz allem mindestens so verdient wie beispielsweise Jassir Arafat.
Eines steht jetzt schon fest: Einen Sportfunktionär und Sport-Machtpolitiker wie Sepp Blatter wird die Schweiz nie mehr hervorbringen. So wenig wie die Franzosen je wieder eine Persönlichkeit wie Napoléon bekommen haben.