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Zu Besuch in Belgien bei Anderlecht-Trainer René Weiler

Anderlecht's Ivan Obradovic, left, and head coach Rene Weiler celebrate after victory of their team during a Europa League round of 32 second leg soccer match between Zenit St.Petersburg and Ande ...
René Weiler ist in Belgien auf Meisterkurs.Bild: Dmitri Lovetsky/AP/KEYSTONE

In einer anderen Welt – zu Besuch in Belgien bei Trainer René Weiler

Der Schweizer René Weiler erlebt als Trainer des RSC Anderlecht den enormen Stellenwert, den der Fussball in Belgien hat. Mit dem Traditionsklub aus dem Vorort Brüssels läuft es wie geschmiert.
10.04.2017, 11:5210.04.2017, 12:07
Markus Brütsch, Brüssel / Schweiz am Wochenende
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Devon weiss, dass die Trainings nicht öffentlich sind. Dennoch ist er aus Ostende angereist, um sein Glück zu versuchen. 100 Kilometer hin, 100 Kilometer zurück − nur um seinen Lieblingen beim Üben zuzusehen.

Er hat Dusel: Am Eingang kann er sich den Kindern eines Feriencamps anschliessen, die angemeldet sind und hinein dürfen. «Ich komme zu jedem Heimspiel, und wenn möglich besuche ich auch die Auswärtspartien. Für einen Schüler wie mich ist das aber teuer», sagt der 17-jährige Hardcore-Fan.

«Doch der RSC ist mir das wert. Er ist das Wichtigste in meinem Leben.» Im November habe er noch Zweifel gehabt, ob es mit Anderlecht und Trainer Weiler gut komme, sagt Devon. «Jetzt aber bin ich überzeugt, dass wir Meister werden und gegen Manchester United eine Chance haben.» Im Viertelfinal der Europa League empfängt Anderlecht am Donnerstag die Red Devils.

Schweizer Trainertrio

Auf dem perfekten Rasenteppich im Trainingszentrum des belgischen Rekordmeisters, zehn Kilometer ausserhalb von Brüssel im Grünen gelegen, stehen René Weiler und David Sesa beisammen. Sie beobachten, wie sich die Spieler unter der Anleitung von Thomas Binggeli aufwärmen. Die drei Schweizer Trainer sind im letzten Sommer mit dem Auftrag nach Anderlecht gekommen, den stolzen Royal Sporting Club nach zwei titellosen Jahren wieder zur Nummer 1 in der Jupiler Pro League zu machen.

Nach dem Einlaufen übernimmt Cheftrainer Weiler das Zepter. Viele Nationalspieler wie Kara (Senegal), Hanni (Algerien), die Rumänen Stanciu und Chipciu sowie der polnische Torjäger Teodorczyk sorgen für ein hohes Niveau. «Schauen Sie, das ist Tielemans», ruft begeistert Devon. Vom 19-jährigen Mittelfeldspieler werden in Belgien wahre Wunderdinge erzählt.

Am Nachmittag sitzt Weiler in einem Bistro in der Brüsseler Innenstadt. Obwohl die Saison in eine ganz heisse Phase getreten ist, nimmt er sich viel Zeit, um über den belgischen Fussball, Anderlecht, seine Arbeit und sich selber zu sprechen. Sein Credo: Stets das Bestmögliche geben. Mehr sei ja nicht möglich und beeinflussbar.

«Das Gefühl, in Belgien nur als kleiner Schweizer wahrgenommen zu werden, hatte ich nie. Wir Schweizer sollten uns nicht immer kleiner machen, als wir sind.»
René Weiler

Er sagt: «Im Herbst gab es mal eine Serie von drei Spielen ohne Sieg und wir lagen für eine Woche nur auf dem sechsten Platz. Da war der Teufel los.» Er habe den Journalisten dann lapidar gesagt, dass es die Verantwortlichen schon sagen würden, wenn man mit ihm nicht zufrieden sei.

Das Gegenteil war der Fall. Anfang März verlängerte der Klub den Vertrag mit Weiler vorzeitig um ein Jahr bis 2019. «Wir sind sehr zufrieden mit seiner Arbeit», liess sich Manager Herman van Holsbeek zitieren. «Er hat Anderlecht auf der Fussball-Landkarte wieder positioniert und eine klare Vision.»

«Ein grosser Verein mit einer tollen Geschichte»

Weiler sagt: «Das ist ein Zeichen beidseitiger Wertschätzung und darf in diesem verrückten Geschäft als Kompliment gewertet werden.» Er habe in den ersten neun Monaten hier viel erlebt und gelernt, sagt der 43-Jährige. «Die Sprache – kommuniziert wird nur in Französisch und Englisch – sowie die neue Kultur und Mentalität waren eine Herausforderung.»

Der Winterthurer hat seinen Arbeitgeber als «einen grossen Verein mit einer tollen Geschichte, einer hervorragenden Infrastruktur und vielen guten Mitarbeitern» kennen gelernt. Die Heimspiele seien allein wegen der Stimmung ein Erlebnis.

Die Meisterschaft ist wichtiger

Das Stadion Constant Vanden Stock mit 26'361 Plätzen ist bis zum Ende der Saison ausverkauft. Gegen Manchester United hätte der RSC, dessen Etat bei 55 Millionen Euro liegt, 100'000 Billette verkaufen können. «Wir freuen uns auf dieses Spiel. Die Spieler haben es sich mit guten Leistungen verdient», sagt Weiler vor dem Kräftemessen mit Startrainer José Mourinho. Er betont indes: «Die Meisterschaft ist wichtiger.»

Rekordmeister
33 Mal hat der RSC Anderlecht schon die belgische Meisterschaft gewonnen. Das ist einsamer Rekord. Der erste Verfolger FC Brügge kommt lediglich auf 14 Titel.

Der Titel garantiert die Qualifikation für die Champions League. In der laufenden Saison ist der RSC in der Qualifikation an Rostow hängengeblieben. Was damit zusammenhing, dass sich Anderlecht im Sommer von 20 Spielern getrennt hatte und die neue Mannschaft Zeit brauchte, bis sie eingespielt war. «Es hat sich einiges entwickelt seither − auch neben Platz», sagt Weiler.

Am Ende der Regular Season mit 30 Spielen stand Anderlecht mit zwei Punkten Vorsprung vor Brügge auf Rang 1, in der Europa League schlug es Mainz 6:1 und warf in den K.-o.-Spielen Zenit St.Petersburg und Nikosia aus dem Wettbewerb. Inzwischen hat in der heimischen Liga die Finalrunde (Playoff 1) begonnen.

«Das ist ein interessanter, aber schwieriger Modus, weil die besten sechs Mannschaften den Titel untereinander ausspielen», sagt Weiler. «Die Spiele sind von hoher Intensität und die Stadien oft ausverkauft.» Obwohl er sich im letzten Sommer nach dem Abgang beim 1. FC Nürnberg mit Verve in die Materie «belgischer Fussball und Anderlecht» hineingekniet hatte, wurde er gleichwohl vom hohen Niveau überrascht.

epa05798145 Anderlecht's head coach Rene Weiler during the UEFA Europa League Round of 16 first leg soccer match between RSC Anderlecht and FC Zenith St. Petersburg at Constant Vanden Stock stadi ...
Fokussiert gegen Mourinho: Weilers nächster Gegner ist Manchester United.Bild: JULIEN WARNAND/EPA/KEYSTONE

Die Qualität des Fussballs hier werde auch an den horrenden Transfersummen ersichtlich, welche für belgische Spieler bezahlt würden, sagt Weiler. An der Spitze: De Bruyne mit 74 Millionen Euro vor Benteke (46,5) und Witsel (40). Ein anderes Indiz: Vom Kaliber eines FC Basel gebe es in Belgien vier oder fünf Teams, sagt Weiler. Wenn er sehe, was bei Anderlecht und anderen Klubs in die Infrastruktur und den Staff investiert werde, dann sei das beeindruckend. «Die Post geht ab hier!», sagt Weiler.

Riesiges Interesse

Das gilt auch für die mediale Begleitung. Die Liga erhält für die Fernsehrechte pro Jahr 70 Millionen Euro, was über dem Doppelten von dem liegt, was die Swiss Football League bekommt. Die Medien seien mit Live-Übertragungen, Analysen und Magazinen um ein Vielfaches präsenter als in der Schweiz, sagt Weiler. «Wenn man verliert in diesem Geschäft, dann muss man gut argumentieren und vielerorts erklären, warum man verloren hat.»

Was natürlich ein gesundes Selbstvertrauen bedingt und zusätzlich an den Energiereserven zehrt. «Freizeit kenne ich schon länger kaum mehr. Man ist gedanklich 24 Stunden an dieses Business gefesselt», sagt Weiler. Der Druck ist riesig. «Zum Siegen gibt es für einen Trainer kaum eine Alternative. Es ist der Wahnsinn: Wenn du verlierst, kaust du beinahe drei Tage lang an der Niederlage herum. Wenn du gewinnst, freust du dich vielleicht drei Stunden, ehe du dich bereits auf die nächste Partie fokussierst.» Am Sonntag bestritt Anderlecht gegen Gent schon das 48. Pflichtspiel der Saison. Das Spiel endete torlos, damit bleibt Anderlecht mit zwei Punkten Vorsprung auf Brügge Leader.

Mit dem Tipp eines Journalisten, er müsse diplomatischer werden, kann Weiler wenig anfangen. Er sagt: «Wer stets diplomatisch ist, befindet sich an der Grenze zum Lügen. Ich bin direkt, aber ich bin anständig, typisch schweizerisch eben.» Derjenige aber, der ihm nicht wohlwollend gesinnt sei, ohne dafür Argumente zu haben, dem müsse er nicht auch noch Zeit schenken. Wie die Medien ticken, das braucht ihm niemand zu erklären. Weiler hat Kommunikation, Journalismus und Leadership studiert.

Auftanken bei der Familie

Entspannen und auftanken kann er einzig in der Familie. Mit seiner Frau und dem dreijährigen Sohn − der ältere befindet sich in der Schweiz in der Lehre − lebt er im schmucken Brüsseler Viertel Uccle. «Wir fühlen uns wohl und sicher, der Terror ist nie ein Thema», sagt Weiler, der Sohn eines Kriminalbeamten.

Dass die Metropole mit 1,2 Millionen Einwohnern die Hauptstadt der EU ist, wird ihm vor allem durch die unzähligen Flugverbindungen in alle Länder bewusst. Die Belgier seien freundliche Menschen, suchten aber nicht sofort den Kontakt, sagt Weiler.

Das Constant-Vanden-Stock-Stadion mit Platz für 28'000 Fans ist oft ausverkauft.
Das Constant-Vanden-Stock-Stadion mit Platz für 28'000 Fans ist oft ausverkauft.Bild: wikipedia

Seine Frau ist nicht nur seine Lebenspartnerin, sondern auch eine wichtige Ratgeberin in psychologischen Fragen, was den Beruf des Fussballtrainers betrifft. Von diesem einmal für ein paar Stunden Abstand nehmen und abschalten kann er jedoch vor allem dann, wenn er mit dem Kleinen spielt. «Er will nicht über Fussball sprechen, sondern nur eines: spielen», sagt Weiler.

So ausgefüllt, nein: glücklich, Weiler derzeit ist, so hat er doch erkannt: «Wenn man diesen Job mit jener Leidenschaft macht, die es braucht, dann glaube ich nicht, dass man ihn zehn bis 15 Jahre ohne Unterbruch ausüben kann.»

Die Assistenten Thomas Binggeli und David Sesa

Von grosser Bedeutung für einen Cheftrainer sind die Mitarbeiter. Mit dem Berner Thomas Binggeli und dem Zürcher David Sesa hat René Weiler zwei Leute seines Vertrauens nach Belgien mitgenommen. «Sie sind meine Assistenten, die mir loyal und gut helfen, die vielen Arbeiten bestmöglich zu erledigen», sagt Weiler.

Mit Sesa hatte Weiler einst bei Servette zusammengespielt und beide standen im Kader der Schweizer Nati, als Weiler 1997 gegen Russland (1:2) sein einziges Länderspiel bestritt. Binggeli gehörte zum Staff, als Weiler beim FC Aarau Trainer war. «Ich habe noch keine Sekunde bereut, diese Herausforderung angenommen zu haben», sagt Binggeli. Neben seiner täglichen Arbeit auf dem Trainingsplatz ist er oft auf Reisen, um die Gegner von Anderlecht unter die Lupe zu nehmen. Am Tag nach dem Sieg bei Zulte-Waregem flog er nach Manchester, um den Europa-League-Gegner zu beobachten. Am Sonntag und Montag war der 52-Jährige dann wieder in Brüssel, um am Dienstag erneut nach England zu reisen, weil er die United ein zweites Mal am Werk sehen wollte. «Wenn wir mit der speziellen Atmosphäre im Old Trafford klarkommen, liegt ein Weiterkommen drin», sagt Binggeli.

Sesa lebt mit seiner Familie in Brüssel im selben Wohnblock wie Weiler. «Es geht mir gut, die Arbeit macht Spass», sagt Sesa. Auch er ist eng in den Trainingsbetrieb eingebunden, sitzt bei den Spielen auf der Bank und nimmt Aufgaben im Bereich des Spieler-Scoutings wahr. Nach seiner Tätigkeit als Trainer beim FC Wohlen war er zwei Jahre lang arbeitslos und musste nicht zweimal überlegen, das Anderlecht-Angebot Weilers anzunehmen. Sesa, der vier Jahre für Napoli gespielt und 36 Länderspiele absolviert hatte, sagt: «Auf diesem Niveau bei diesem Klub als Assistent arbeiten zu dürfen, ist einfach grossartig.»

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