«Wie wär's mit England!?»
Mitleidiges Lächeln. Wer bei vergangenen Turnieren in einer Diskussion über den möglichen Weltmeister die Engländer ins Spiel brachte, der erntete genau das. Ein mitleidiges, schadenfreudiges Lächeln. Die Engländer haben wohl eine gute Liga. Aber erstens kein gutes Nationalteam, zweitens gewinnen sie niemals ein Penaltyschiessen und drittens steht da jeweils ein Fliegenfänger im Tor.
2018 ist alles anders. Nationaltrainer Gareth Southgate hat ein Team zusammengeschustert, das funktioniert. In den Achtelfinals hat England gegen Kolumbien tatsächlich ein Penaltyschiessen gewonnen. Und mit Jordan Pickford haben sie einen Keeper, der bislang glänzend halt und noch keinen Flop produziert hat.
Wird 2018 also wirklich das Jahr, in dem alles zusammenpasst? Das Jahr, von dem sie in England noch ihren Ur-Grosskindern erzählen werden, dass sie es miterlebt hätten? Es wäre so schön!
Ein mehrfacher Übersteiger von John Barnes ist eine meiner frühesten Erinnerungen an Fussball im Fernsehen. So etwas wie vom bulligen Liverpool-Stürmer hatte ich bis dahin noch nie gesehen. Und dann dieser Lärm der Fans, wenn ein Tor fiel!
Als Bube freute ich mich zwar am Sonntagabend im «Sport am Wochenende» über Waffenlauf und Radball – aber noch viel mehr über kurze Zusammenfassungen der englischen Liga.
Ein paar Jahre später, ich war gerade aus der Schule gekommen, wird die EM 1996 in England ausgetragen. Ein grosses Team hat der Gastgeber, mit Alan Shearer, Tony Adams, Stuart Pearce, Paul Ince, Teddy Sheringham und natürlich mit Paul Gascoigne. Unvergessen sein Tor im Wembley gegen Schottland.
An diesem Turnier kommt eine Hymne auf, die dieser Tage gerade ihr Revival erlebt: «Football's Coming Home». Leider für die Engländer endet der Traum vom zweiten Titelgewinn seit jenem bei der WM 1966 im Halbfinal. Im Penaltyschiessen. Gegen Deutschland.
David Beckham, Steven Gerrard, Paul Scholes, Rio Ferdinand, Frank Lampard, Michael Owen, Wayne Rooney – an grossen Spielern fehlt es den Engländern auch in der Folge nie. Aber einem Final kommen sie nie mehr nahe. Und nun fehlt bloss noch ein weiterer Erfolg.
Maybe, just maybe, this little thing is coming home.... #bbcworldcup #england #itscominghome pic.twitter.com/7IZ7n6XyfX
— Alan Shearer (@alanshearer) 7. Juli 2018
Mich hatten die Engländer trotz des sich wiederholenden Scheiterns längst an Bord geholt. Als hoffnungsloser Fussball-Romantiker wünschte ich an jedem Turnier, einen Exploit der «Three Lions» mitzuerleben. Die Grundeinstellung des britischen Fussballs macht es schliesslich einfach, für sie zu sein. Es geht vorwärts, es wird gekämpft, aber in der Regel fair und ohne Schauspielerei.
Viele Bücher vom englischen Fussball der 80er- und 90er-Jahre habe ich verschlungen, voll mit wunderbaren Anekdoten. Die Zeiten haben sich auch in England geändert, aber nach wie vor ist der Fussball auf der Insel anders als bei uns.
Die Zuschauer in England singen nicht pausenlos wie in anderen Ländern. Aber kaum hat das eigene Team eine nur schon im Ansatz gefährliche Aktion, steigt der Lärmpegel im Stadion an. Ich habe schon oft Fussballspiele in England besucht – absichtlich nicht in der Premier League – und die Atmosphäre nimmt mich jedes Mal wieder mit. Egal ob in Nottingham oder Huddersfield, in Birmingham oder Coventry, man spürt: Hier wird der Fussball tatsächlich gelebt. Und man sieht auch: Viele Fans haben vermutlich nicht das einfachste Leben. Ihre Klubs geben ihnen etwas zurück und das Nationalteam eint alle Fans.
2-0! COME ON ENGLAND! 🏴 #WorldCup #ENG #worldcup2018 #SWEENG #ThreeLions pic.twitter.com/lOumfZtKAO
— BoxparkCroydon (@BoxparkCroydon) 7. Juli 2018
Die Euphorie in England war schon vor dem Halbfinal-Einzug riesig, jetzt ist sie es erst recht. Schliesslich hat vor der WM 2018 erst einmal ein englisches Nationalteam an einer Weltmeisterschaft so viele Tore erzielt: 1966 beim legendären WM-Triumph im eigenen Land. «Keine Ahnung, ob das etwas zu bedeuten hat und was», sagt Trainer Southgate und gibt sich alle Mühe, auf die Euphoriebremse zu treten. «Heute Abend sollten wir es aber alle geniessen, denn so oft hatten wir ja nicht Gelegenheit dazu, den Einzug in einen WM-Halbfinal zu feiern.»
Nicht, dass wir uns falsch verstehen: Ich könnte mich für jedes der verbliebenen Teams freuen, würde es in Russland Weltmeister werden. Für die einen mehr, für die anderen etwas weniger. Aber für niemanden so sehr wie für die «Three Lions».
«Wie wär's mit England!?»
Wenn jetzt über den möglichen Weltmeister diskutiert wird, lacht keiner mehr.