Es ist ein selten nasskalter Sommermorgen in der Vorstadt dieser Millionenmetropole. Schon die Anreise war mühsam und unbequem. Die Grenzschutzbeamten schauten für einmal genau hin. Doch der Ärger ist angesichts des Ziels schnell vergessen. Schliesslich winkt der Einblick in interne Unterlagen des Sportwettenmarktes.
«Ich kann Ihnen diese Dokumente auf keinen Fall überlassen, aber Sie dürfen sie gerne vor Ort anschauen», sagt der Gesprächspartner am Telefon. Es geht um klare Belege, dass Spielmanipulation auch auf der ATP-Tour verbreitet ist.
Wie kaum ein anderer Sport leidet Tennis unter der Manipulation von Spielen. Es dreht sich alles um kriminelle Wettgewinne. Der Zwischenbericht einer unabhängigen Untersuchungskommission (Tennis Integrity Review Panel, kurz IRP), welche von den vier Tennis-Dachverbänden eingesetzt wurde, lässt keinen Zweifel daran. Er nennt die Situation einen «Tsunami».
Diskussionsstoff bieten allerdings eine der zehn Empfehlungen sowie die Aussage, dass Matchfixing primär ein Problem auf der untersten Stufe des Profitennis sei.
Viele der vorgeschlagenen Lösungsansätze im IRP-Report, um das Problem in den Griff zu kriegen, sind kalter Kaffee. So ist eine drastische Reduktion der Anzahl Profispieler auf gutem Weg. Der Internationale Tennis Verband (ITF) lanciert 2019 mit der «Transition Tour» ein neues Turnierprogramm mit genau diesem Ziel. Denn von derzeit rund 15'000 Spielern, die pro Jahr mindestens ein Profiturnier absolvieren, verdienen gemäss einer Studie 45 Prozent jährlich weniger als 1000 Dollar durch Preisgelder. Sogar nur 1.8 Prozent der Spieler können von diesen Einnahmen leben, trotz insgesamt 282 Millionen Dollar ausbezahlter Preisgelder im letzten Jahr.
Finanzielle Anreize für Matchfixing stehen also durchaus an erster Stelle. Aber nicht nur. Auch Gier, Spielsucht, Erpressung oder der Reiz des Verbotenen können Beweggründe sein.
Seit einiger Zeit publizieren die Tennis Integrity Unit (TIU), welche 2008 zur Bekämpfung der Korruption im Tennis gegründet wurde, sowie der Zusammenschluss von 26 grossen europäischen Buchmachern (ESSA) quartalsweise Informationen über die eingegangen Meldungen von Spielmanipulation. Die TIU notierte 2017 241 solche Warnungen, bei der ESSA waren es 160.
Doch der Grad der Transparenz der TIU ist bescheiden. Zu wie vielen Untersuchungen diese Meldungen effektiv führten, wird nicht kommuniziert. Und es fehlt eine Übersicht, welche Turniere auf welcher Profistufe betroffen sind. Aufschlussreicher sind die Dokumente, die uns an diesem nasskalten Sommermorgen von verschiedenen Akteuren vorgelegt werden. Insgesamt sind es über 500 Tennisspiele, bei denen es in den letzten vier Jahren gemäss internationalen Wettanbietern klare Indizien für einen Wettbetrug gegeben hat.
In den hitzigen Diskussionen um die Wirksamkeit von empfohlenen Massnahmen des IRP, die derzeit hinter den Kulissen des Tennis stattfinden, geht es auch um sehr viel Geld. Mit Sportwetten werden im Jahr weltweit je nach Schätzung zwischen einer und zwei Billionen Dollar umgesetzt. Allein die Fussball-WM in Moskau beschert den Buchmachern einen vorausgesagten Rekordgewinn von 36.4 Milliarden Dollar. Verständlich, dass sich nicht nur die Wettmafia etwas von diesem Kuchen abschneiden will.
Bis zum 25. Juli müssen alle involvierten Parteien – die Verbände, die Buchmacher und die Dienstleister – ihre Rückmeldungen zum Zwischenbericht des IRP abgeben. Diese sollen dann in den definitiven Report, der im Spätherbst erwartet wird, einfliessen.
Kontrovers diskutiert wird Empfehlung 1 des IRP-Reports. Sie will, dass die Internationale Tennis Federation, welche die unterklassigen Turniere verantwortet, ihren 70 Millionen Dollar teuren Vertrag (für fünf Jahre) mit Sportradar, einem Anbieter von Sportdaten und Inhalten für die Wettbranche, beendet. Denn seit der Lancierung dieser Zusammenarbeit, mit welcher 2012 Livewetten auch auf den unteren Stufen der ITF-Futures-Turnieren möglich gemacht wurden, sei die Anzahl der manipulierten Spiele dramatisch gestiegen. Deshalb müsse man das Angebot reduzieren, schlussfolgert der IRP.
Verwunderlich ist dieser Vorschlag schon deshalb, weil entsprechende Vereinbarungen der Wettbewerber von Sportradar, IMG und Perform mit anderen Tennisorganisationen, wie z.B. ATP and WTA, die die gleichen Dienstleistungen an Wettanbieter offerieren, nicht hinterfragt wurden. Auch nicht betrachtet wurde, dass das Sportwetten aber auch Sportwettmanipulation global im betrachteten Zeitraum massiv angestiegen sind. Sei es im Tennis auf allen Ebenen, aber auch bei anderen Sportarten. Die Frage drängt sich auf, wie unabhängig das Independent Tennis Review Panel wirklich agiert.
An diesem nasskalten Sommermorgen bieten die vorgelegten Dokumente neue Erkenntnisse. Namentlich dominieren Spieler aus Osteuropa, Südamerika und Spanien. Auch ein halbes Dutzend Akteure aus der Schweiz sind aufgeführt. Sie alle haben an verdächtigen Spielen teilgenommen, deren Übel natürlich auch auf der anderen Seite des Netzes stehen kann. Aussagekräftiger ist die Kurzvariante mit jenen Beteiligten, die mehr als fünfmal genannt werden.
Diese Dokumente enthalten Namen aller Profiniveaus und sind damit deckungsgleich mit den Statistiken im Anhang des IRP-Reports. Dort sieht man zwar, dass Manipulationen auf ITF-Stufe zahlreicher sind. Wenn man die Zahlen aber ins Verhältnis mit der Menge der Spiele setzt, sieht die Situation anders aus. So waren 2017 0.32 Prozent der ITF-Futures-Turniere, 0.70 Prozent der ATP-Challenger, 0.46 Prozent aller ATP-Tour-Events und 0.64 Prozent der Grand-Slam-Turniere von mutmasslicher Manipulation betroffen. Der Betrug im Tennis findet auf allen Ebenen statt.
Die Geister scheiden sich darüber, ob Spielmanipulation reduziert werden kann, wenn offizielle Echtzeit-Daten an ITF-Turnieren nicht mehr angeboten werden. Gar nicht einverstanden ist man mit dieser These naturgemäss bei Sportradar. Es geht um geschäftliche Interessen, aber durchaus auch um Argumente. «Die Wettbetrüger werden sich nicht damit begnügen, künftig zuhause Kuchen zu backen», sagt Geschäftsführer David Lampitt. Er prognostiziert eine Verlagerung der illegalen Aktivitäten zum Beispiel in die höher dotierte ATP-Challenger-Tour und warnt davor, dass ein zukünftig unkontrollierter Wettmarkt die Möglichkeiten stark einschränkt, Manipulationen aufzudecken.
Lampitt erhält von verschiedener Seite Zuspruch. Der renommierte Sportwetten-Analyst Mark Phillips glaubt nicht, dass der Deal mit Sportradar der Kern des Problems ist. Er habe einfach dazu geführt, dass die Anzahl der Warnungen von Wettanbietern wegen der schieren Menge der neu zur Verfügung stehenden Spiele deutlich zugenommen habe. Denn im Vergleich der knapp 20'000 Spiele in den ATP-Turnierserien finden auf Stufe ITF jährlich 65'000 Partien statt.
Ein verantwortlicher Mitarbeiter eines grossen Wettanbieters in Europa sagt: «Man merkt solchen Berichten an, dass die Leute keine Ahnung davon haben, wie die Wettmärkte funktionieren.« Der Ruf nach einem Verbot widerspricht auch dem aktuellen Trend. So wurde in den USA das Verbot von Sportwetten jüngst vom Obersten Gerichtshof aufgehoben. Auch René Stammbach, der Vizepräsident des internationalen Tennisverbands, hat Vorbehalte. Der Schweizer sagt, die Empfehlungen seien teilweise «nicht fertig gedacht. Vor allem fehlen mir im Bericht die Informationen, wie man zu einer Schlussfolgerung kommt».
Nirgends zu finden in diesen brisanten Dokumenten sind die grossen Stars der Szene wie Federer, Nadal oder Djokovic. Obwohl Letzterer in einem Zeitungsbericht vor einigen Jahren erzählt hat, dass sein Team einst an einem Turnier in St. Petersburg von der Wettmafia kontaktiert wurde.
So geht es vielen jungen Spielern. Wer mitmacht und den netten Herren den kleinen Gefallen tut, zwei Doppelfehler in Folge zu fabrizieren oder den ersten Satz abzugeben, der bleibt eine Karriere lang erpressbar. 2016 berichtete die BBC von 16 aktuellen oder ehemaligen Top-50-Spielern, die bei Manipulationen beteiligt waren.
Aktuell an die Medien gelangte der Fall eines Doppels in Wimbledon mit dem Spanier Fernando Verdasco. Bei diesem Spiel stellten verschiedene Buchmacher auffällige Verschiebungen von Wettquoten fest und meldeten den Fall der TIU.
Verdasco bestätigt das, indem er auf Twitter schreibt: «Ich wurde von der TIU über Wettaktivitäten während meines Doppels befragt. Ich unterstütze deren Arbeit voll und ganz, denn ich habe mich stets für Integrität und Transparenz in unseren Sport engagiert und werde diesen nie kompromittieren.»
I was interviewed by TIU regarding betting activity on my doubles match at Wimbledon. I fully support the TIU work as I have always been totally committed to integrity and transparency in our sport and will never compromise that.
— Fernando Verdasco (@FerVerdasco) 12. Juli 2018
Offensichtlich reichen solche Meldungen nicht, um genügend Beweise gegen den ehemaligen Top-10-Spieler zu finden. Denn die TIU macht punkto Transparenz für einmal eine Ausnahme und schreibt auf die Anfrage der «Schweiz am Wochenende»: «Um es ganz klar zu sagen: Fernando Verdasco wurde nie von der TIU in einem Match Alert benannt, noch wurde er jemals wegen eines Korruptionsdelikts angeklagt.» Verdasco ist übrigens einer der Spieler, der an diesem nasskalten Sommermorgen in den Dokumenten mehrfach auftaucht.
Ob der Tennisverband den lukrativen Deal mit Sportradar wirklich aufkünden wird, ist fraglich. Neben der Verkleinerung des Kuchens, der sich um die Preisgelder duelliert, stehen andere Lösungsansätze im Vordergrund. Etwa die Verstärkung der koordinierten Zusammenarbeit von Tennisverbänden, Wettanbietern und Datenunternehmen bei Überwachung und Identifizierung von Problemen. Oder eine deutliche Stärkung der Durchschlagskraft der TIU als verantwortliche Ermittlungsbehörde.
Denn die Kritik im Untersuchungsbericht ist klar und deutlich. Die bisherigen Ermittlungen der TIU seien nicht umfassend genug gewesen, nicht alle Indizien wurden überprüft. Auch die Grösse der Einheit (aktuell 17 Vollzeitstellen) und die Zusammenstellung seien ungenügend. So fehlten in der TIU im Gegensatz zu Fachleuten für die Strafverfolgung Experten für Tennis und Wetten. Die TIU selber sagt: «Wir haben bereits erfolgreich über 40 Fälle von Spielern und Offiziellen verfolgt. Die Anzahl der Fälle, die jedes Jahr verfolgt werden, hat in letzter Zeit ebenfalls zugenommen. Die TIU untersucht Alarme gründlich und unterscheidet auch nicht zwischen Spielern mit hohem oder niedrigem Weltranglistenrang.»
Nicht auf die Lösungen der Sportverbände warten Wettanbieter und staatliche Untersuchungsbehörden. Die Buchmacher helfen sich längst selbst, in dem sie eigene Integritätsabteilungen aufgebaut haben, die auf verdächtige Wettbewegungen schnell reagieren und zum Beispiel Einsatzlimiten nach unten korrigieren. Und sie führen im Tennis sogenannte Risikolisten: Interwetten gab 2016 an, von 50 Spielern auf einer Blacklist gar keine Wetten mehr anzubieten und bei weiteren 80 auf der Watchlist nur im reduzierten Umfang.
Ein europäischer Marktführer, der auf Diskretion beharrt, sagt, dass aktuell 78 Tennisspieler auf seiner Blacklist stehen – darunter 25 Spieler aus den Top 200 der Weltrangliste. Auch die Polizei bleibt nicht untätig. Im Juni verhafteten die belgischen Behörden fünf Armenier wegen Matchfixing-Vorwürfen im Tennis. Die Ermittlungen waren koordiniert mit Europol und FBI. Es gab auch Hausdurchsuchungen in den USA und fünf weiteren europäischen Ländern. Insgesamt wurden 13 Personen festgenommen. Gar 129 Haftbefehle stellte die spanische Polizei vor wenigen Tagen aus. Auch hier ging es um einen europaweit agierenden kriminellen Matchfixing-Ring.
Obwohl die Tennis Integrity Unit 2008 wie auch das Integrity Review Panel 2016 jeweils nach Medienschlagzeilen über Manipulationen an der Spitze der Tour ins Leben gerufen wurden, ortet man die Probleme letztlich nicht dort. Szenekenner Mark Philips schreibt dazu auf Twitter, die 17 in den letzten Jahren durch die TIU gesperrten Spieler hätten ein durchschnittlich höchstes Ranking in der Weltrangliste von 726. «Seither hat Fernando Verdasco an allen vier Grand-Slam-Turnieren Spuren hinterlassen», meint er vielsagend. «Die TIU will alle glauben lassen, Korruption im Tennis beschränkt sich auf das tiefe Level. Das ist nicht der Fall.» Die Unterlagen, die wir an diesem nasskalten Sommermorgen gesehen haben, bestätigen zweifellos diesen Eindruck.
(aargauerzeitung.ch)