Herr Schaaf, sind die EM-Auftritte der Isländer auch für einen Experten wie Sie eine Überraschung?
Thomas Schaaf: Natürlich, genau wie für alle anderen. Die Isländer schreiben eine ganz tolle Geschichte.
Was steckt dahinter?
Eine unheimliche Disziplin und
Bereitschaft, alles zu geben. Natürlich auch das Gefühl, dass man gar
nicht so viel zu verlieren hat. Aber es sind ja keine Anfänger. Alle
stehen in einem gewissen Alter und haben schon einiges erlebt. Sie haben
zu einer Gemeinschaft gefunden, die sie trägt. Wenn man die Wege sieht,
die sie zurücklegen − einfach grossartig!
Woran sind die Engländer gescheitert?
An der isländischen Mauer.
Und es gibt keine Lösung, um diese zu durchbrechen?
Es gibt
für alles eine Lösung. Wir haben ja auch immer geglaubt, die Spanier
seien eine Mannschaft, gegen die kein Kraut gewachsen ist. Jetzt haben
die Italiener das Gegenteil bewiesen. Die Frage, was gegen diese
Isländer zu tun ist, muss nun Frankreichs Coach Didier Deschamps
beantworten.
Wenn Sie Deschamps wären?
Ich tue mich schwer damit, eine
Lösung aufzuzeigen (Schaaf möchte gegenüber dem englischen Coach Roy
Hodgson nicht als Besserwisser auftreten; die Red.). Ich bin sicher,
Hodgson hatte sich ein Rezept zurechtgelegt. Aber dieses hat halt nicht
funktioniert. Es ist eben auch ausserordentlich schwierig, sich gegen
eine so gut gestaffelte Mannschaft durchzusetzen.
Wird die englische Premier League überschätzt?
Englands
Nationalteam und die Premier League darf man jetzt nicht 1:1 sehen, denn
die Liga ist sehr stark mit ausländischen Spielern besetzt. Persönlich
habe ich übrigens die Engländer in den Spielen zuvor sehr positiv
gesehen. Sie haben flott nach vorne gespielt und ein gutes Tempo in
ihrem Spiel gehabt. Es ist auch eine sehr junge Mannschaft.
Haben die Italiener gegen Spanien auch Ihnen Spass gemacht?
Nun,
man hatte ja vor dem Turnier nicht besonders viel von ihnen erwartet.
Wir haben gesagt, es sei eine ordentliche Mannschaft, aber ob sie ganz
vorne dabei sein könne, müsse man erst mal sehen. Dann haben die
Italiener gegen Belgien ein tolles Spiel hingelegt und wir haben
aufgehorcht. Gegen Spanien war Italien sehr diszipliniert, sehr
engagiert, aber eben nicht nur, was die Defensive angeht. Es waren viele
gute Offensivaktionen zu sehen.
Hat der spanische Coach Vicente Del Bosque zu wenig rotiert?
Sein Team wirkte platt. Del
Bosque hat erklärt, seine Spieler seien sich diesen Rhythmus gewohnt,
was ja auch stimmt. Aber es ist schon richtig: Die Spanier haben
vielleicht noch etwas mehr als andere eine verdammt lange Saison in den
Knochen.
Die Achtelfinals sind gespielt, wie hat Ihnen die EM bislang gefallen?
Es
gab am Anfang die Diskussion, ob die Gruppenspiele im neuen Modus
langweilig seien. Es wurde intensiv über den neuen Modus debattiert:
Sind 24 Mannschaften nicht zu viel? Wenn ich nun aber gesehen habe, wie
sich die Isländer wehrten oder wie gut die Ungarn gespielt haben, dann
muss ich sagen, dass der Modus kein Problem ist. Sie straften die
Kritiker Lügen.
Aber defensiver wird schon gespielt als bei den letzten Turnieren.
Ich
hatte zumindest am Anfang den Eindruck, dass Defensive angesagt ist.
Aber war dies nicht schon immer so gewesen? Warum soll man in der
Gruppenphase auch ein Risiko eingehen, wenn es das gar nicht braucht?
Doch so, wie sich die Nordiren gegen Deutschland eingemauert haben, geht es auch nicht.
Aber
die Nordiren sind in die nächste Runde gekommen! Solche Spiele gibt es
auch in der Champions League und in der Bundesliga. Es gibt halt Mittel,
die nicht besonders attraktiv, aber legitim sind. Und vielleicht gibt
es ja auch Zuschauer, die das anhaltende Passspiel der Spanier nicht
mögen, sondern lieber Kick-and-Rush sehen.
Welchen Eindruck hatten Sie von der Schweiz?
Ich habe sie in
Paris gesehen. Sie durfte die berechtigte Hoffnung haben, sich gegen
Polen durchzusetzen. Wenn sie dann ein solch tolles Tor durch Shaqiri
schiesst und doch im Elfmeterschiessen ausscheidet, ist es schon hart.
Wie nehmen Sie die Ambiance in Frankreich wahr? Ist es ein Fest?
Als
ich in Paris ankam, gab es Demonstrationen und Streiks. Das war ein
Dämpfer. Aber wenn ich dann später die euphorischen Fans gesehen habe
und wie die Iren und Nordiren sangen und die Isländer ausgeflippt sind,
dann ist es schlicht grossartig hier.
Was passiert in den Viertelfinals?
Eine Menge! Polen und
Portugal sind zwei Teams mit hervorragenden Individualisten; Deutschland
- Italien ist eine grosse Nummer; die Belgier sind jetzt gut im Turnier
drin, man sieht plötzlich, was in ihnen steckt; und über die Isländer
haben wir schon gesprochen.