Ultra-Marathons sind ja von Natur aus ultraschwer. Aber wer sich nicht mehr zufrieden gibt mit den «100 Kilometern von Biel» oder dem bergigen «Engadin Ultraks» (46 km, 3000 Hm), der kann ja mal ans härteste und kälteste Ultra-Rennen der Welt. Dieses findet jährlich in Yukon statt. Die Strecken reichen von der Marathon-Distanz über 100 Meilen (160 km) bis 300 Meilen (482 km). Alle zwei Jahre – das nächste Mal 2019 – findet gar ein Event über 430 Meilen (692 km) statt.
Was das Rennen besonders hart macht, sind die Temperaturen. Bis zu Minus 50 Grad kalt kann es werden. Die Strecken können zu Fuss, mit Langlaufskiern oder mit dem Mountainbike (Fatbike) absolviert werden. Der Trail ist markiert, jedoch je nach Schnee- und Windverhältnissen nicht ganz einfach zu finden. Neben Einzelteilnehmern sind auch Zweierteams zum Rennen zugelassen.
Die Teilnehmer ziehen einen Schlitten mit persönlicher Ausrüstung und Essen mit. Es geht durch eine Gegend, die nicht dafür gemacht ist, dass Menschen sich dort länger aufhalten. Ein einziger Fehler – und du steckst in richtigen Problemen. In diesem Jahr wagten sich 21 Abenteurer an die Herausforderung.
Alle gaben auf.
Bis auf einen.
Jethro De Decker.
Der Südafrikaner scheiterte im letzten Jahr noch in Braeburn nach fast 100 Kilometern. Dieses Mal hielt den 35-Jährigen nichts mehr auf, er erreichte das Ziel am 9. Februar. Wir haben den einzigen Finisher 2018 kurz darauf an seinem Wohnort in Singapur erreicht.
» Ein Interview mit dem einzigen Schweizer Teilnehmer, Martin Zogg, folgt ganz unten.
Jethro De Decker, du warst gerade rund 132 Stunden (fast 6 Tage) in der Eishölle. Wie geht es dir?
Jethro De Decker: Ich war nie zuvor an so einem kalten Ort. Aber es geht mir besser, als ich dachte. Physisch war das Rennen nicht sehr anstrengend. Mental ist es brutal. Und eben die Kälte.
Du bist Südafrikaner, da ist man sich nicht gerade an Kälte gewohnt. Warum hast du mitgemacht?
Ich fuhr vor Jahren die Tour d'Afrique, das Velorennen von Kairo nach Kapstadt. Danach absolvierte ich einige Ultra-Läufe. Aber irgendwann kam ich an den Punkt, an dem ich etwas anderes erleben wollte. In anderen Konditionen. Ich wollte eher an spezielle Orte gehen, als ein Ultra-Rennen zu gewinnen.
Es geht nicht ums Gewinnen?
Nein, es ist nur ein Wettkampf gegen dich selbst. Ich habe unterwegs ein paar Mal andere Teilnehmer getroffen. Dann geht man ein Stück zusammen. Aber man versucht, sich nicht abzuhängen. Jeder muss einfach auf seinen Plan schauen und machen, was für ihn richtig ist. Der Kampf gegen die Natur ist Kampf genug.
Wann hast du eigentlich das erste Mal Schnee gesehen?
In Südafrika kann es schon auch schneien. In den Drakensbergen zum Beispiel. Natürlich ist das meist so, dass der Schnee fällt und am nächsten Tag ist er wieder weg.
Was war das Härteste während dem Rennen?
Der Beginn. Der erste Tag und die erste Nacht. Da war es so kalt, das Rennen wurde kurz unterbrochen. Viele der Starter mussten da schon aufgeben. Danach war es stets der Moment, wenn ich aus dem Schlafsack musste.
Warum?
Es war konstant um die Minus 40 Grad kalt. Wenn du dich da nicht bewegst oder dich umziehen musst, frierst du innert Sekunden brutal. Socken wechseln war jeweils schlimm. Im Schlafsack drin ist es okay, aber du kannst da ja nicht ewig bleiben.
Wie muss ich mir den Ablauf des Rennens vorstellen?
Meist bist du alleine unterwegs, völlig alleine. Du läufst von Checkpoint zu Checkpoint. Manchmal sind das kleine Hütten, manchmal nur ein Zelt mit einem Ofen drin. Da kannst du rein gehen und dich etwas aufwärmen. Aber eigentlich schläfst du im Schlafsack. Unterwegs können dir alle per GPS folgen. Wenn du wirklich nicht mehr weiter kannst, hast du einen Notbutton, den du drückst. Dann sollten die Retter in sechs bis acht Stunden bei dir sein.
Wie viele Schichten hast du eigentlich getragen, damit du warm hattest?
Normalerweise vier Schichten. Einmal versuchte ich es mit fünf, aber das fühlte sich kälter an. Du musst ja zwischen den Schichten auch immer noch etwas Luft haben, die sich erwärmen kann.
Und kalte Hände oder Füsse hattest du nicht?
Eine meiner besten Entscheidungen war wohl der Schuh. Im letzten Jahr – als ich aufgeben musste – hatte ich zu oft kalte und vom Schweiss nasse Füsse. Mein diesjähriges Modell konnte besser atmen. Mit den Händen ist es so: Wann immer du die Handschuhe ausziehst, musst du genau wissen, was du jetzt machen willst. Zum Beispiel, um Tee zu trinken. Das ist bei diesen Temperaturen nicht einfach. Du musst jeden Schritt vor dir sehen.
Was muss man machen, wenn man kalt hat?
Iss etwas Zuckerhaltiges.
Schokolade?
Zum Beispiel. Ich hatte viel Schokolade dabei. Die hatte ich bereits in Stückchen gebrochen. Die waren dann zwar gefroren, aber sobald du sie im Mund hast, tauen sie schnell auf und geben dir einen Wärmeschub. Zumindest für kurze Zeit. Oder etwas Warmes trinken hilft auch. Für mich war ein Stück Schokolade essen immer einer der ersten Schritte, wenn es mir nicht mehr so gut ging.
Wie meinst du das?
Wenn du zu kalt hast oder müde bist, dann siehst du Schatten, später Halluzinationen. Ich achtete auf diese Warnzeichen. Sobald ich Schatten sah, hielt ich an und ass etwas. Der Ursprung vieler Krisen war, dass ich zu wenig gegessen hatte.
Du gingst durch viele Tiefs. Wie hast du auf Krisen reagiert?
Sehr wichtig ist, dass du das akzeptierst und nicht direkt dagegen ankämpfst. Du musst akzeptieren, dass es kalt ist und dann das Beste daraus machen.
Ist das etwas, das du auch in den Alltag mitnehmen kannst?
Auf jeden Fall. Du kannst alles ändern, aber du musst erst wissen, woran du bist. In Yukon ist dies meist sehr offensichtlich.
Wie viel hast du während dem Rennen geschlafen?
Mein Plan war es drei Stunden zu schlafen und dann wieder 21 Stunden zu laufen. Weil aber das Rennen nach dem ersten Tag unterbrochen wurde und ich wusste, dass eine harte Etappe folgte, schlief ich in jener Nacht sechs Stunden. Ansonsten hielt ich mich an meinen Plan. Ich hatte den besten Rhythmus für mich im Training herausgefunden.
Du warst viel allein unterwegs. Meist in totaler Stille. Wie fühlt sich das an?
Es ist surreal. Du hörst nichts. Nur deine Schritte. Im Schnee hörst du so sogar den Temperatur-Unterschied.
Du bist in Kapstadt aufgewachsen, lebst jetzt in Singapur. Grösser könnte der Kontrast zu dieser Stille kaum sein. Wie war dieser Spagat für dich?
Ich brauche beides. Was mich an Yukon reizte, war, dass der Ort so schwierig zu erreichen ist. Das Gelände ist weitestgehend nicht gemacht, um als Mensch dort zu leben. Klar, du hast bei diesem Rennen ein Sicherheitsnetz. Wenn du gut vorbereitet bist, kann dir nicht viel passieren.
Wie hast du dich vorbereitet?
Fit war ich von meinen Ultra-Läufen. Dazu half mir meine Erfahrung vom letzten Jahr extrem. Ich konnte meine Ausrüstung anpassen. Und super war das Survival-Training, das die Organisatoren kurz vor Rennstart anboten. Du lernst, in der Kälte Feuer zu machen, musst durch einen eisigen Fluss waten, eine Nacht draussen verbringen. Das kann ich jedem Teilnehmer nur empfehlen.
Was war das Wichtigste?
Du musst mental bereit sein. Dir muss bewusst sein, wie wichtig jede Entscheidung ist. Alles ist wichtig. Ein Fehler – und du bist weg. Es ist nicht wie bei anderen Rennen, bei denen ein Fehler vielleicht bedeutet, dass du halt mehr leidest oder dir Blasen holst. Hier heisst es, dass du es nicht schaffst.
Das Rennen wurde 52 Kilometer vor dem Ziel gestoppt. Was ging dir da durch den Kopf?
Das war natürlich schwierig für mich, in der Nacht hatten wir rund Minus 46 Grad. Ich wusste, ich hätte das auch noch geschafft. Es ging mir gut. Und die Strecke war wohl die einfachste der ganzen Route. Du gehst da von Pelly Crossing nach Pelly Farm und wieder zurück. Ich wusste also, wo es durchgehen würde. Aber die Sicherheit ist wichtig, darum verstehe ich das. Kurz davor wurden mit Ilona Gyapay und Roberto Zanda die zwei anderen verbliebenen Teilnehmer aus dem Rennen genommen.
Was war das Eindrücklichste?
Die Nordlichter. Nur wenige Leute können diese weltweit so erleben. Selbst in der Nacht war es durch den Mond und die Sterne teilweise hell genug, um ohne Stirnlampe zu laufen. Und natürlich das Essen an den Checkpoints. Oh, und die Lasagne im Ziel! Die war grossartig.
Was machst du eigentlich jetzt? Sind nächste Projekte geplant?
Nein, im Moment nicht. Ich erhole mich. Bald fliege ich nach Borneo an den Strand.
Neben dem Sieger aus Südafrika haben wir auch den einzigen Schweizer Teilnehmer erreicht. Er musste nach rund 24 Stunden aufgeben.
Martin Zogg, du hast das Rennen nach rund einem Tag beendet. Was ist passiert?
Ich lief durch die Nacht und hatte eiskalte Füsse, seit sicher sechs Stunden. Wir hatten Minus 47 Grad. Dann fing es auch in den Fingern an. Ich konnte nichts mehr machen, weder mein Zelt aufbauen, noch Feuer machen. Dann kam zum Glück ein Schlitten der Organisatoren und nahm mich mit.
Wie ging es weiter?
Ich dachte, meine Füsse seien kohlenrabenschwarz vor Kälte und wir müssten sofort ins Spital. Zum Glück bestätigten sich meine Befürchtungen nicht. Am Checkpoint konnte eine Fachperson meine Füsse anschauen und Entwarnung geben. Sie waren nur sehr stark unterkühlt. Ich bin mit einem blauen Auge davongekommen.
Wie muss man sich die Kälte im Yukon vorstellen?
Wenn du dich nicht bewegst, frierst du innert Minuten so richtig. Nur schon, wenn du «schnell» was vom Schlitten nehmen willst, musst du dir das gut überlegen. Einfach «schnell» was nehmen, das geht nicht.
Du bist zurück in der Schweiz. Alles wieder gut?
Noch nicht ganz. Ich habe noch Stellen an den Füssen, wo das Gefühl fehlt. Auch die Fingerbeeren sind noch ein bisschen taub.
Wieso macht man da mit?
Das ist schwierig zu beantworten. Es ist ein Abenteuer. So in der Natur draussen zu sein, das erlebst du sonst nicht. Da merkst du, wie klein wir gegenüber der Natur sind. Hier in der Schweiz sind wir ja mehr oder weniger immer sicher.
Was nimmst du Positives mit?
Ich habe super Leute kennengelernt und es entstanden Freundschaften. Der Vollmond irgendwo in den Wäldern des Yukons ist unglaublich, es herrscht eine mystische Stimmung.
Du hattest 2017 schon mitgemacht. Bist du auch im nächsten Jahr wieder dabei?
2017 stürzte ich und verletzte mich am Knie. Da konnte ich nicht mehr weitermachen. Ich sage jetzt nicht nein, aber nächstes Jahr bin ich sicher nicht dabei. Seit zwei Jahren ist das Rennen bei mir omnipräsent. Jetzt brauche ich mal eine Pause.