Die Stimmung in Tom Lüthis Box ist bluesig. So wie wenn die Roadies nach einem verregneten Open Air die Musikanlage abbauen und in den Trucks verstauen. Mit dem Zusammenpacken konnte früher als geplant begonnen werden. Schon in der vierten Runde rutschte Tom Lüthi vor Kurve Nummer fünf mit seiner Maschine von der Piste ins Kiesbett.
A disgruntled @ThomasLUTHI slides out of the race! 💥
— MotoGP™ 🇨🇿 (@MotoGP) August 4, 2019
The Swiss rider haemorrhages points because of it! 🥺#CzechGP 🇨🇿 pic.twitter.com/koPO7WdhrA
Jeder weiss, was er zu tun hat. Viel wird nicht gesprochen. Hektische Geschäftigkeit kommt nur ganz kurz auf, als der «Besenwagen» Tom Lüthis zerbeulte Höllenmaschine zurückbringt. Die Verschalung sieht aus, als hätte sie eine Kuh im Maul gehabt, und einer der Mechaniker schüttet das Kies aus, das sich nach dem Sturz in der Verschalung angesammelt hat.
Tom Lüthi (32) hat sich längst aus dem Leder-Kampfanzug geschält und gibt frisch gebürstet und gekämmt Auskunft.
Es geht um seine schwerste Niederlage. Zumindest statistisch und wenn wir das missglückte MotoGP-Abenteuer der letzten Saison ausklammern. Nach Assen war er mit 8 Punkten Vorsprung auf Alex Marquez (23) WM-Leader. Nun, zwei Rennen später, hat er 33 Punkte Rückstand auf den Spanier.
Moto 2 Classement Général championnat Monde 2019 10/19
— Auto-moto SportNet 🇧🇪 (@romefabrice62) August 4, 2019
1.🇪🇸Marquez Alex 161Pts
2.🇨🇭Luthi Thomas 128Pts
3.🇪🇸Fernandez Aug 110Pts
4.🇪🇸(Navarro Jorge) 110Pts
5.🇩🇪Schrotter Marcel 107Pts
6.🇮🇹Baldassarri L 102Pts
7.🇮🇹Marini Luca 101Pts
8.🇿🇦Binder Brad 84Pts
9.🇮🇹Bastianini E 74Pts pic.twitter.com/0ctYBlrBQX
In keinem anderen Sport sind Ausreden so wohlfeil wie im Rennsport. Wetter, Konkurrenten, Reifen, Bremsen – alles Mögliche ist schuld. Nur nie der Fahrer.
Aber Tom Lüthi sucht keine Ausreden. Zweimal musste er aus der vierten Reihe (als Zwölfter) losfahren. Er räumt ein, dass er die letzten zwei Rennen auch im Training verloren hat. «Die Trainings sind ein wichtiger Faktor.» Seit der Einführung neuer Reifen (seit dem GP von Jerez) sei die technische Abstimmung aus der Balance geraten. «Das soll keine Ausrede sein. Die anderen mussten ja damit auch fertig werden und Alex Marquez hat offensichtlich damit kein Problem. Aber Fakt ist, dass wir dieses Problem noch nicht im Griff haben.»
Konkret gehe es um die Bremse. «Die Ausgeglichenheit ist so gross, dass es nur auf der Bremse möglich ist, zu überholen. Auf der Bremse bin ich eigentlich stark. Aber hier habe ich sofort gespürt, dass es nicht funktioniert. Selbst eine bessere Startposition hätte nicht geholfen. Ich konnte nicht um den Sieg fahren.» Zum Sturz kam es in der Bremsphase vor der Kurve.
Die Abstimmung obliegt dem Fahrer in enger Zusammenarbeit mit dem Cheftechniker. Die Frage ist natürlich: Ist es ein Problem, dass Cheftechniker Michael Thier keine Erfahrung hat? Er kommt vom Fahrwerkhersteller Kalex und kann eine Maschine in einer Dunkelkammer mit verbundenen Augen zusammenbauen. Aber den Pulverdampf an der Rennfront atmet er diese Saison zum ersten Mal ein. Tom Lüthi sagt, was er sagen muss. «Nein, das ist nicht das Problem.» Und sein Manager Daniel Epp ergänzt: «Auch die Mannschaft von Alex Marquez musste erst zusammenwachsen. Erst jetzt im vierten Jahr kann er Trainings und Rennen dominieren.»
Das Versagen hat also keine personellen Konsequenzen im Team. «Wir planen die nächste Saison mit den gleichen Leuten», sagt Daniel Epp.
Das Motto ist nach diesem bitteren Rückschlag also klar: Nur nicht den Kopf verlieren. Ruhig weiterarbeiten. Das Team zusammenrücken lassen. Zügig, aber ohne Hast eine Lösung suchen. «Wir müssen die Probleme so schnell wie möglich lösen», sagt Tom Lüthi. «Das Rennen am nächsten Sonntag in Zeltweg wird noch viel mehr auf der Bremse entschieden als hier Brünn. Ich habe diese Saison den GP in Austin gewonnen. Auf einer extremen Bremsstrecke. Das zeigt doch, dass wir es können …» Die Suche nach der verlorenen Magie des Bremsens.
Ganz vorne und ganz oben ist die Luft dünn. Eine Weltmeisterschaft wird nicht nur mit fahrerischen Heldentaten entschieden. Mindestens so wichtig ist die unspektakuläre Detailarbeit im Team. Wer weniger Fehler macht, triumphiert.
Tom Lüthi und seine Crew haben auf dem Sachsenring und nun in Brünn zu viele Fehler gemacht. Das mag Manager Daniel Epp nicht bestreiten. «Aber alle machen Fehler. Das gehört bei diesem komplexen Sport dazu.» Sündenböcke gebe es keine.
Ist der WM-Titel verloren? «Nein», sagt Tom Lüthi. «Der Glaube ist da.» Der Rückschlag habe auf seine Motivation keinen Einfluss. Es gehe darum, nun in jedem Rennen ein Optimum herauszuholen. Oder wie es sein Manager sagt: «Wir versuchen Training für Training, Rennen für Rennen zu gewinnen und dann zu sehen, wo wir stehen.» In den Eishockey-Playoffs sagen die Präsidenten, Sportchefs, Trainer, Betreuer und Spieler in dieser Situation: «Nichts ist verloren. Wir nehmen Spiel für Spiel.»
Neun Rennen bleiben. 225 Punkte sind noch zu vergeben. Da können 33 Punkte aufgeholt werden. Theoretisch. Praktisch ist die Sache fast gelaufen. Wenigstens ist Tom Lüthi der direkte Verfolger, zwischen ihm und dem WM-Leader ist kein anderer Fahrer klassiert. Ereilt das Pech Alex Marquez, dann ist Tom Lüthi der Profiteur.
Was in so einer Situation gesagt werden muss, haben Tom Lüthi und sein Manager gesagt. Die Enttäuschung haben sie in Brünn mit höchster Professionalität gemanagt. Die Erklärungen machen Sinn. Wenn Daniel Epp sagt, das Team werde durch diese Erfahrung stärker, hat er wohl recht.
Aber etwas hat in Brünn gefehlt. Keiner war nach dieser bitteren Niederlage zornig. Keiner war missmutig. Keiner hat geflucht. Keine Türe ist zugeknallt worden. Keine Werkzeuge sind durch die Box geflogen. Kein «Heilanddonner-Reflex».
Professionelle, harmonische Enttäuschung. Freundliche Verlierer.
Kann man so Weltmeister werden?
Lüthi ist seit jeher ein Sensibelchen. Er ist nur schnell wenn alles stimmt.
Marquez ist da vermutlich robuster. Aber auch ihn kann das Pech eines Nullers ereilen ...