MV Agusta kehrt nach 42 Jahren ins GP-Geschäft zurück. Auf den ersten Blick ein spektakuläres Comeback einer Edelmarke, die mit Giacomo Agostini, dem besten aller Zeiten, einst die edelste der Welt war.
Aber im Sommer und Herbst hat das Projekt arg an Strahlkraft verloren. Nicht das legendäre Werk MV Agusta beteiligt sich direkt an der Moto2-WM. Sondern das Team Forward. Der Rennstall von Giovanni Cuzari, einem wahren Rock'n'Roller in allen Dingen, hat diese Saison gerade mal 8 WM-Punkte eingefahren und soll 2019 «MV Agusta Forward Racing Team» heissen. Dominique Aegerters neues Arbeitsgerät wird die Bezeichnung «MV Agusta F2-Reparto-Corse» tragen.
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— Speedweek (@SpeedweekMag) 14. November 2018
Das Problem: Niemand weiss, ob die Höllenmaschine konkurrenzfähig sein wird. Ab nächster Saison beginnt alles von vorn. Neu werden nicht mehr Einheitsmotoren von Honda eingesetzt. Sondern Triebwerke von Triumph. Das bedeutet, dass alle Hersteller neue Fahrwerke bauen und von vorne anfangen müssen.
Das Design der neuen Maschine stammt tatsächlich von MV Agusta, hinter der Umsetzung steht aber der Schweizer Fahrwerkshersteller Eskil Suter aus Turbenthal. Wir haben es also mit einer italo-helvetischen Konstruktion zu tun. Oder böser: Wo MV Agusta draufsteht, ist eigentlich Suter drin. Sozusagen Etiketten-Schwindel. Ein motorisiertes Kuriosum. Aber ein spektakuläres.
Konkurrenzfähig oder nicht spielt für Dominique Aegerter im Grunde keine Rolle. Für ihn ist entscheidend, dass er seine Karriere doch noch in der Moto2-WM verlängern kann. Und so sagt er brav das Verslein auf, das sich bei einer Vertragsunterschrift gehört: «Ich bin sehr erleichtert, dass ich im letzten Moment noch einen Vertrag für nächstes Jahr unterschreiben konnte. Ich freue mich riesig auf die Zusammenarbeit mit MV Agusta und dem Forward Team.» So haben sich in letzter Minute zwei Parteien gefunden, die noch im Sommer nichts voneinander wissen wollten.
Der schlaue, charismatische Töff-Manager Carlo Pernat mit Wohnsitz in Monaco hatte von MV Agusta den Auftrag, zwei Piloten zu rekrutieren. Erst wollte er unbedingt Tom Lüthi (32). Doch als der dahinterkam, dass unter der MV-Verschalung Suter-Technik steckt, sagte er (und mit ihm jeder angefragte Top-Pilot) ab. Inzwischen hat der Emmentaler längst einen Zweijahresvertrag für die Moto2-Saison 2019 und 2020 im erstklassigen Deutschen «Intact-Team» im Sack.
Beim Namen Dominique Aegerter rümpfte Carlo Pernat noch im September die Nase. Und umgekehrt lehnte Aegerter unter anderem eine sehr gute Möglichkeit ab, die nächste Moto2-Saison im Team des Holländers Jarno Jansen zu fahren. Weil er in einer Mischung aus Naivität und Selbstüberschätzung glaubte, etwas Besseres zu finden. Was sich vorerst als Irrtum erweisen sollte. Und so kam es, dass Anfang November MV Agusta ohne Fahrer und Aegerter ohne Team und Töff dastanden. Das Ende der GP-Karriere war für den Rohrbacher nahe. Und das im besten Alter.
Nun haben die so gegensätzlichen Parteien – der Rock'n'Roller aus dem bernischen Oberaargau und die schlauen Italiener – doch noch zueinander gefunden. Im letzten Moment hatte ein helvetischer Chronist den Kontakt vermittelt. Geld muss Dominique Aegerter vorerst (zumindest offiziell) noch keines in die Teamkasse einschiessen.
Es ist ein historischer Deal. Zum ersten Mal seit 1984, als der Tessiner Sergio Pellandini für den Suzuki-Rennstall von Roberto Gallina die «Königsklasse» bestritt, fährt wieder ein Schweizer für ein italienisches Team. Was im internationalen Töffgeschäft fast so exotisch ist wie ein SP-Nationalrat in der SVP-Fraktion: Italienische Teams setzen eigentlich alles daran, mit Italienern zusammenzuarbeiten und nur Ausländer mit Starstatus (wie es Lüthi ist) sind willkommen. Aber eben: Von allen im November übriggebliebenen Piloten war Aegerter mit Abstand der beste.
Wie stehen nun die Chancen? Gar nicht so schlecht. Weil ja alle wegen der Umstellung von Honda auf Triumph-Motoren wieder ganz von vorne beginnen.
Wenn das MV-Konstrukt eine Chance hat, dann vor allem in der ersten Saison. Bevor die technisch besser gerüstete Konkurrenz ihre Höllenmaschinen justiert hat. Um es etwas boshaft zu erklären: Die Differenz zwischen dem «MV Agusta Forward Racing Team» und den Edelmarken Kalex (auf die Lüthi vertrauen wird) und KTM ist etwa so gross wie zwischen der NASA und einer Reparatur-Werkstätte für Landmaschinen.
Dominique Aegerter wird nächste Saison das vierte unterschiedliche Fabrikat in fünf Jahren zu bändigen versuchen (2014 Suter, 2015 und 2016 Kalex, 2018 KTM, 2019 MV Agusta). Er klagt seit seiner grossen Saison 2014 (ein Sieg) ständig über Schwierigkeiten bei der technischen Abstimmung und hat sich mit all seinen Cheftechnikern überworfen.
Aber nach dem ewigen Biker-Gesetz «Last on the brakes, first on the throttle» («am spätesten bremsen, als erster wieder Gas geben») geht es immer irgendwie. Und in seiner Situation gilt sowieso: Einem geschenkten Töff schaut man so wenig in den Auspuff wie einem geschenkten Gaul ins Maul.
Ride in 2019? 🤔🏍
— Dominique Aegerter (@DomiAegerter77) 11. November 2018
Some people pass their time writing bucket lists. I prefer to live my dreams. Thanks to my brother @kevinaegerter who makes this possible. #brotherlove 💪🏽😎
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Eigentlich ist Dominique Aegerter der perfekte Mann für das abenteuerliche MV-Projekt. Zumal er nach viel Ungemach in den letzten drei Jahren (ein Sieg wegen illegalen Getriebeöl-Zusätzen aberkannt, mehrere schwere Verletzungen) nun von den Töffgöttern ein bisschen Glück zugute hat.
Und eine neue Motivation ist nicht zu unterschätzen: Er wird nach einem Jahr Unterbruch endlich wieder gegen seinen ewigen Rivalen Tom Lüthi antreten können. Der nach einer Saison aus der «Königsklasse» zurückkehrende Emmentaler stachelt Dominique Aegerter auf der Rennpiste mindestens so an wie ein frisch geschorenes Schaf den Bock.
Am Freitag in einer Woche beginnen als Abschluss der Saison vor der Winterpause die ersten dreitägigen offiziellen Moto2-Tests mit den neuen Bikes im andalusischen Jerez. Wir dürfen uns in der Moto2-WM 2019 auf viel helvetischen Rock und Roll freuen.