31 der 32 Moto2-Piloten sind zwei Wochen vor dem Saisonstart zu den ersten echten Tests angereist. Nur Lorenzo Baldasari fehlt wegen einer Blessur.
Aus einem wolkenlosen blauen Himmel brennt die Sonne in Jerez de la Frontera im Süden von Spanien während drei Tagen auf die Helden in Lederkombis und Helmen hernieder. Das Thermometer klettert bis auf 26 Grad. Mittwoch, Donnerstag und Freitag wird gefahren. Wer jetzt nicht vorne dabei ist, wird während der ganzen Saison Mühe haben.
Die beiden Schweizer Töffstars Tom Lüthi (30) und Dominique Aegerter (26) gehen (oder besser: fahren) nach zwei Jahren im gleichen Team nun wieder getrennte Wege. Tom Lüthi (30) hat letzte Saison den WM-Titel erst im zweitletzten Rennen verloren. Die Frage also: Kann er 2017 Weltmeister werden?
Dominique Aegerter (26) ist letzte Saison nur WM-12. geworden. Die Frage also: Kann er in einem neuen Team und auf einem neuen Töff (nach zwei Jahren Kalex ist er erneut auf einer Suter unterwegs) endlich wieder ganz vorne fahren?
Und es gibt auch eine bange Frage: Ist Tom Lüthi Titelanwärter oder Bruchpilot? Er ist im Laufe der Vorsaisontests sechsmal gestürzt, alleine dreimal hier bei den letzten Tests in Jerez. Er sagt: «Normalerweise stürze ich bei Tests nicht.» Müssen wir uns Sorgen machen? «Keine Ahnung. Wenn morgen Rennen wäre, wäre ich sehr, sehr nervös. Zum Glück waren es bisher nur Tests. Aber wir brauchen bis zum Saisonstart noch grosse, nicht kleine Schritte.»
Er müsse ein besseres Gefühl fürs Limit beim Vorderrad finden. «Ich bin ohne Vorwarnung gestürzt. Es fehlt noch sehr, sehr viel. Da liegt noch Arbeit vor uns. Ich muss ein besseres Gefühl bekommen und ich muss schneller fahren. Es wäre einfacher, wenn es schon jetzt laufen würde. Ruhig bleiben und weiter arbeiten heisst nun das Motto.»
Und so steht Tom Lüthi nach diesen ersten aussagekräftigen Tests «nur» auf Position zehn. Ganz klar hinter Dominique Aegerter (4.). Er relativiert: «Die Probleme waren zu gross, um auf die Zeiten zu schauen. Ich hatte auf dem Display die Zeitangabe ausgeschaltet. Sicherheit zu finden war für mich wichtiger als schnelle Rundenzeiten. Wenn das Gefühl wieder da ist und alles stimmt, dann werde ich automatisch schneller. So ist es uns wenigstens nicht langweilig geworden …»
Titelanwärter oder Bruchpilot? Nach wie vor Titelanwärter. Tom Lüthi hat keine Ausreden gesucht. Er hat genug Erfahrung, um in den verbleibenden letzten Tests bis zum Saisonstart am 26. März in Katar Lösungen zu finden. Aber eine gewisse Nervosität ist zu spüren. Mit dem letztjährigen Fahrwerk ist er beinahe Weltmeister geworden und hat das letzte Saisondrittel dominiert. Mit dem neuen Chassis kommt er jetzt noch nicht zurecht. Wird er womöglich auf das letztjährige Modell umsteigen? «Auch daran habe ich schon gedacht.»
Die Zeit drängt. Nur ein erfahrener Pilot wie Tom Lüthi ist dazu in der Lage, diese kritische Situation vor dem Saisonstart zu meistern. Noch ist er kein Bruchpilot. Aber wenn er erstmals auch in der zweitwichtigsten Töff-WM Weltmeister werden will, braucht er beim Saisonstart in Katar eine Klassierung in den ersten sechs. Sonst verwandeln sich die sanften Zweifel von Jerez in eine Krise.
Dominique Aegerter steht erstmals seit dem Frühjahr 2014 bei den Vorsaisontests wieder auf Augenhöhe mit Tom Lüthi. Zwei Jahre im Team von Tom Lüthi (Saison 2015 und 2016) haben ihn beinahe die Karriere gekostet und auf die WM-Ränge 17 (2015) und 12 (2016) zurückgeworfen.
Das Drama um Dominique Aegerter zeigt eindrücklich auf, wie sensibel die wagemutigsten Rennfahrer sind. Der «Lüthi-Komplex», die unmittelbare Nähe zu seinem Idol, hatte ihn gelähmt.
Er wollte das nie wahrhaben. Doch jetzt ist er froh, dass er in einem neuen Team und wieder auf der Suter fahren kann. Der Maschine, auf der er 2014 seinen bisher einzigen GP (Sachsenring) gewonnen hat. Er sagt über seine Situation «Ja, meine Leistungen stimmten in den zwei letzten Jahren nicht. Aber was sind die Gründe? Dass Tom mein Teamkollege war? Weil wir auf Kalex umgestiegen sind? Weil ich schwer gestürzt bin? Es gibt viele Ursachen.» Er wirkt jetzt lockerer, selbstsicherer – und ist logischerweise auch schneller.
Dominique Aegerter ist bei den Tests in Jerez so schnell und sicher gefahren wie seit 2014 nie mehr. «Aber nicht, weil Tom nicht mehr mein Teamkollege ist. Es ist vieles anders geworden. Die Sportler-RS im vergangenen Winter hat mir auch geholfen. Der Militärdienst hat Spass gemacht und ich konnte von den anderen Spitzensportlern viel lernen und einen Schritt vorwärts machen. Und es hat gut getan, während des Winters sechs Wochen in Spanien zu trainieren. Ich fahre jetzt mit der Suter wieder die Maschine, die ich wollte, und fühle mich in einem neuen Team wohl. Es hilft auch, dass ich nun bei einem Team bin, in dem Deutsch die wichtigste Sprache ist.»
Die letzten Cheftechniker parlierten Französisch. Da aber Dominique Aegerter diese Sprache nur ungenügend beherrscht, radebrechte er mit seinem wichtigsten Mitarbeiter in Englisch. Kein Wunder, höhnte ein Techniker (dessen Name mir soeben entfallen ist): Wenn ein Ingenieur mit einem Fahrer über die Abstimmung der Maschine diskutiere, sei das so, wie wenn sich zwei Tierärzte unterhalten. Aber wenn ein Cheftechniker mit Dominique Aegerter die Abstimmung bespreche, sei das so, wie wenn ein Tierarzt mit einem Pferd spreche. Nun arbeitet der Deutsche Jochen Kiefer als «Pferdeflüsterer», als Cheftechniker.
Die Frage also: Ist Dominique Aegerter wieder auf dem Niveau von 2014? Auf Augenhöhe mit Tom Lüthi? Nein, noch nicht. Er war zwar hier in Jerez schneller als sein Erzrivale. Aber das neue Selbstvertrauen ist noch ein zartes Pflänzchen und gegen den Frost der Zweifel noch nicht gefeit.
Dominique Aegerter wird erst wieder das Niveau von 2014 erreichen, wenn er sich mehrmals in einem Rennen gegen Tom Lüthi durchsetzen kann. Immerhin spricht jetzt vor der Saison vieles dafür, dass er dazu in der Lage ist.
Dominique Aegerter hat sich von Tom Lüthi emanzipiert und ist nach zwei verlorenen Jahren auf dem besten Wege, sich vom eingeschüchterten Teamkollegen wieder zum echten Rivalen zu entwickeln.
Wir dürfen uns auf eine spektakuläre Moto2-Saison 2017 freuen.