Am liebsten wäre ich Reit-Chronist geworden. Hier gibt es alles. Der «Planet Pferd» ist eine Welt für sich, der Welt entrückt. Edle Pferde, schöne Frauen, der Geruch von Reichtum und immer eine schöne Geschichte. So ist es auch hier in Rio. Allerdings ist es diesmal eine Geschichte, die jede Fiktion übertrifft.
Die Ausgangslage lässt das Drama noch nicht erahnen. Die Schweiz tritt mit einer vierköpfigen Equipe zum Mannschafts-Wettkampf an. Im Rahmen dieses Wettbewerbes folgt auch die Qualifikation für das Einzelspringen vom Freitag. Fürs Einzelspringen sind allerdings nur noch drei Teilnehmer pro Nation zugelassen.
Kein Problem: Equipen-Chef Andy Kistler wird einfach die drei bestklassierten aus dem Mannschaftswettkampf nominieren. Die Chance, dass alle vier punktgleich sein könnten, ist so minimal, dass sie nicht einmal diskutiert wird.
Unsere Springreiter holen im Teamfinal den 6. Rang und somit ein olympisches Diplom. Gratulation! #swissolympicteam pic.twitter.com/g3vpgKv2vO
— Swiss Olympic Team (@swissteam) 17. August 2016
Und dann passiert es doch. Die Mannschaft reitet an der Medaille vorbei (6. Platz) – und reitet ihren Teamchef in eine unmögliche Situation hinein.
Früher war Andy Kistler Europa-Marketing-Chef eines globalen WC-Papierherstellers. Jetzt hat er selber den Dreck. Das mag nun gar boulevardesk formuliert sein. Excusez l’expression. Aber passend ist es das böse Wortspiel doch.
Weil Janika Sprunger, Steve Guerdat, Romain Duguet und Martin Fuchs nach Mannschafts-Wettkampf fürs Einzelspringen vom Freitag qualifiziert sind, aber alle exakt genau gleich viele Fehlerpunkte auf dem Konto haben, muss nun Andy Kistler entscheiden, welche drei am Freitag um eine Medaille reiten dürfen. Es ist eine Situation, die es so in der ganzen ruhmreichen helvetischen Reitergeschichte noch gar nie gegeben hat. Und so entfährt dem eloquenten, freundlichen Gentleman spontan, seufzend und aus tiefstem Herzen der Satz: «I bi a arme Siech!».
Wohl war. Der ehemalige Manager, der sich mit ein paar Verwaltungsrats-Mandaten vorzeitig zur Ruhe gesetzt hat, sagt: «Es geht um Menschen, um Träume und um Karrieren. Ich mache mit meinem Entscheid jemanden, ja ich mache ganze Familien, eine ganze Region traurig und verärgere auch Sponsoren.» Er habe in seiner ganzen Berufslaufbahn in den Chefetagen eines globalen WC-Papier-Konzerns nie eine so folgenschwere Entscheidung treffen müssen. Und wie er entscheidet, er kann es nicht allen recht machen.
Nachdem der Chronist Andy Kistler die Ausgangslage mit einer gewissen Boshaftigkeit so dargelegt hat, sagt der Gentleman mit einem bitteren Lächeln. «So, so. Danke, dass Sie mir geholfen haben …» Er schliesst aus, dass jemand aus dem Quartett freiwillig verzichtet. Der Entscheid wird morgen im Laufe des Nachmittags fallen.
Diese Pattsituation auf olympischem Weltniveau ist einerseits ein Zeichen für die Stärke unserer Kavallerie, die zwar 1972 abgeschafft worden ist. Damals war unsere Armee die einzige zwischen Rocky Mountains und Ural, die sich noch berittene Streitkräfte leistete. Diese stolze Tradition lebt wenigstens in der olympischen Kavallerie fort.
Es passt, dass unser Teamchef in Stress geraten ist. Ein ganz besonderes Merkmal dieser Reiterwettkämpfe ist nämlich der menschliche und tierische Stressfaktor.
Weil die Hindernisse nicht mehr höher und voluminöser gebaut werden dürfen und inzwischen das Niveau des Reitsportes so hoch ist, bleibt nur noch ein Mittel, um die ganze Angelegenheit anspruchsvoller zu machen: die Zeitlimite. Sie ist hier so knapp angesetzt worden, dass genau die Hälfte der Reiterinnen und Reiter einen Strafpunkt für Zeitüberschreitung kassiert haben. Auch alle vier aus unserer tapferen Reitertruppe. Das hat es auf der olympischen Bühne noch nie gegeben.
Der Stressfaktor für die Reiterinnen und Reiter ist unübersehbar und überträgt sich logischerweise auch auf die edlen, sensiblen Tiere. Obwohl die ja die Uhrzeit nicht ablesen können.