Gibt es nicht ähnliches Hockey daheim? So ist es. Bald einmal wird dem neutralen Beobachter klar, wo er diese Saison schon ähnliches Hockey gesehen hat wie bei den Partien der Schweizerinnen gegen Kanada (1:12) und Russland (2:5): In Langnau und bei Gastspielen von Ajoie.
Ein junges, mutiges Team mit ein paar herausragenden Spielerpersönlichkeiten. Aber einer Lotterabwehr und einfach zu schwach, zu wenig ausgeglichen, taktisch zu undiszipliniert, um mit den Grossen mithalten zu können. Unsere Hockey-Frauen sind in Peking bisher so aufgetreten wie diese Saison Langnau und Ajoie in der National League.
Aber wo Schatten ist, muss auch Licht sein. Und tatsächlich. Lara Christen, die Schwester von Langenthals Luca Christen (nächste Saison beim EHC Biel), ist so etwas wie unsere vergessene olympische Heldin. Wer in einem Team spielt, das zweimal chancenlos ist, erntet halt keinen Ruhm.
Sie ist erst 19 und spielt bereits mit den Besten der Welt auf Augenhöhe. Sie bekommt von allen unseren Verteidigerinnen am meisten Eiszeit: Mehr als 20 Minuten pro Partie. Im Juniorinnenalter!
Frauen-Nationaltrainer Colin Muller (56) ist eine Legende. Er gehörte zu Zugs Meisterteam von 1998, coachte unter anderem die Lakers, Gottéron und die ZSC Lions. Als Assistent von Sean Simpson ist er ein WM-Silberheld von 2013.
Noch immer glüht in ihm die Hockeyleidenschaft. Er redet sich nach den Niederlagen gegen Kanada und Russland in Hitze. «Wir sind von den Russinnen nicht besiegt worden. Wir haben uns selbst geschlagen.» Er spricht von unglaublichen Fehlern, die bestraft worden seien.
Er muss sich an der Bande ähnlich ohnmächtig fühlen wie Gary Sheehan in Ajoie oder Yves Sarault in Langnau. Und doch hellt sich auf einmal seine Miene auf. Er wird auf Lara Christen angesprochen und rühmt, dass man seinen Ohren nicht traut. Er ist ein Mann der ehrlichen, nicht der grossen Worte. Also zählt sein Lob. Er sagt über Lara Christen: «Sie hat eine unglaubliche Spielintelligenz und kann die beste Verteidigerin der Welt werden. Sie hätte jetzt schon in jedem Team in Nordamerika einen Stammplatz.»
Dabei ist Lara Christen fast zu klein (165 cm/ 61 kg) fürs ganz grosse Hockey. Sie kompensiert fehlende Postur mit herausragender Spielintelligenz und formidabler Technik. Sie spielt ruhig und konzentriert, kommt nie in Stress und hat die Fähigkeit, das Spiel ein paar Züge zum Voraus zu erahnen. Sie orchestriert an der blauen Linie das Powerplay, fädelte den Ehrentreffer gegen die Kanadierinnen und ein Tor gegen die Russinnen ein. Sie ist logischerweise die produktivste Verteidigerin der Schweizerinnen. Auch das Defensivverhalten ist solid: Eine Minus-2-Bilanz in einem Team, das nach zwei Partien ein Torverhältnis von 3:17 hat.
Lara Christen sagt, sie habe viel von ihrem Bruder Luca (23) gelernt: «Ich schaute mir immer seine Spiele an und habe ihn schon immer bewundert. Deshalb habe ich mir vieles von ihm abgeschaut. Vor allem seine Ruhe, wenn er an der Scheibe ist. Wenn er von hinten herausspielt, hat er eine super Übersicht und spielt dementsprechend auch gute Pässe direkt auf die Kelle.»
Inzwischen spielt Lara dieses Hockey besser als ihr Bruder. Sie ist noch talentierter. Ja, Luca Christen wäre mit dem Talent seiner Schwester wohl ein Kandidat für die NHL.
Aber eben: Im Frauenhockey gibt es kein Geld zu verdienen. Gute Leistungen öffnen höchstens den Weg zu einem Stipendium für ein Studium an einer nordamerikanischen Universität. Dort hat Frauenhockey einen hohen Stellenwert und dort könnte Lara Christen noch besser werden. Ist der Wechsel ins Ausland eine Option? «Das weiss ich noch nicht. Ich bin derzeit in der Lehre und würde danach gerne die Berufsmittelschule anhängen. Was danach ist, ist noch offen. Ich habe mir auch bereits überlegt, in der Schweiz zu studieren, weil ich vom Eishockey sowieso nicht werde leben können.»
In der Karriere von Lara Christen gibt es eine Parallele zur Laufbahn von Mark Streit. Der spätere NHL-Star war als Junior beim SCB als untauglich für unsere höchste Liga ausgemustert worden.
Lara Christen wohnt nach wie vor in Huttwil (ein Städtchen 15 Kilometer südlich von Langenthal), reist zweimal pro Woche zum Training nach Zürich und verteidigt für die Frauen der ZSC Lions. Warum Zürich? «Ich war damals 15 Jahre alt. Und es hiess vom Verband her, dass alle Spielerinnen, die in der Nati spielen möchten, in einem Team der Women’s League spielen müssen.»
Die Legende geht, dass Lara Christen eigentlich bei Reinach spielen wollte, aber als nicht tauglich für die höchste Frauenliga taxiert worden sei. Ist da was dran? Sie sagt, ganz falsch sei diese Geschichte nicht: «Das war damals sehr komisch. Ich hätte Reinach sogar favorisiert. Wir waren ja auch im Gespräch. Aber sie meldeten sich danach einfach nicht mehr.»
Und so kommt es, dass Lara Christen fürs Eishockey halt 93 Kilometer nach Zürich fährt. Nach Reinach im Kanton Aargau wären es bloss 41.