Nein, es ist keine Filmkulisse. So viel Fantasie hat gar kein Kulissenbauer und Hans Rudolf Giger («Aliens») lebt nicht mehr. Es ist Wirklichkeit.
Der Chronist hatte sich schon fast an die Besonderheiten des Lebens in der olympischen Parallelwelt gewöhnt. Die Angst vor den Marsmenschen, die ihn geholt hätten, wäre er positiv getestet worden – fast vergessen. Oder zumindest verdrängt.
Prägen nun doch, wie immer, die sportlichen Triumphe und Dramen und nicht die besonderen Umstände die Erinnerungen? So wie wir nur der schönen Begebenheiten gedenken, wenn wir im Rosengarten unserer Erinnerungen lustwandeln? Beinahe ist es so gekommen. Aber nur beinahe: Es ist der Abschied aus Peking, der im Gedächtnis haften bleiben wird.
Die Szenerie ist besser als in jedem Endzeitfilm. Der riesige, moderne, ja fast futuristische Flughafen ist nahezu menschenleer. Das Licht gedämpft. Die Stille unheimlich. Keine Lautsprecherdurchsagen. Sämtliche Läden und Restaurants sind geschlossen. Es gibt keine Möglichkeit, irgendetwas zu kaufen.
Bei der Ankunft wird der Chronist von Marsmenschen begrüsst. Das Personal: ausschliesslich Marsmenschen. Und zwar echte: die mit Vollhelm im weissen, geschlossenen Raumanzug, der die Füsse mit einschliesst. Marsmenschen beim Check-in. Marsmenschen bei der Passkontrolle. Marsmenschen beim Zoll. Marsmenschen schliesslich auch beim Boarding. Es ist offensichtlich: Unter gar keinen Umständen dürfen die Marsmenschen ungeschützt den Erdenbewohnern begegnen.
Nach dem Check-in und bestandener Zoll- und Passkontrolle bleiben etwas mehr als drei Stunden Wartezeit. Der Chronist vertreibt sich die Zeit mit langen Wanderungen durch die leeren Abflughallen: Er bringt es mit Flughafenwandern (sozusagen eine neue olympische Sportart) bis zum Abflug auf 11'876 Schritte. Und ganz am Ende des Terminals E, dort, wo es fast ganz dunkel ist, findet er Weltraumromantik pur: Hoch am Himmel steht der Mond. So muss es gewesen sein, als am Anfang nur das Licht war.
Auf der grossen Anzeigetafel sind neben der Direktverbindung nach Zürich nur fünf oder sechs Abflüge für die nächsten zwölf Stunden aufgeführt. Ein interplanetarer Flughafen. Der Optimist denkt: So wird es einmal sein, wenn wir nach einem Ferien- oder Studienaufenthalt den Mars wieder verlassen und im interplanetaren Flughafen auf das Raumschiff zurück zur Erde warten.
Der Pessimist denkt: So wird es sein, wenn die Apokalypse, das Ende der Geschichte über uns gekommen ist und wir mit ein paar Auserwählten auf ein Raumschiff warten, das uns von der unbewohnbar gewordenen Erde wegbringt.
Auf jeden Fall der perfekte Abschied. Nie war der Unterschied zwischen den Welten, der Unterschied zwischen einem Abflug- und dem Ankunftsort so gross, so verstörend schön auch. Nicht einmal bei einem Abschied aus Nordkorea.
Und nun beginnt für den Chronisten die Angewöhnungsphase an eine kuriose neue Welt ohne Marsmenschen, aber voller unbekümmerter Menschen, die keine Masken tragen.