Schock. Trauer. Mitgefühl.
So reagiert die Tenniswelt Anfang Jahr auf diese Meldung:
Andy Murray kann nicht mehr. Der dreifache Grand-Slam-Sieger verkündet im Januar 2019 vor dem Australian Open, dass die Schmerzen in der Hüfte zu gross sind. Dass er nicht mehr weitermachen kann. Noch einmal wolle er Wimbledon spielen, dann sei die Karriere vermutlich vorbei. Doch er war sich nicht mal sicher, ob er das überhaupt schaffen würde. Der Anfang vom Ende der «Big 4» mit Roger Federer, Rafael Nadal, Novak Djokovic und Murray ...
Tränen prägen die letzten Monate des Schotten. Tränen des Schmerzes, als er 2018 nach seiner ersten Hüftoperation zwar wieder einzelne Siege feiert, aber immer noch unter starken Schmerzen leidet.
Tränen des Schmerzes auch vor Melbourne 2019. An der Pressekonferenz, als er sich eingestehen muss, dass es so eben doch nicht weitergehen kann. Die Tenniswelt verabschiedet sich schon von einem ihrer Grossen. Und auch wir würdigen den Champion, den wir trotz seiner manchmal grantigen Art auf dem Platz ins Herz geschlossen haben.
Doch Andy Murray gibt noch nicht auf. Der Kämpfer, der er ist, sucht eine letzte Option, seine Karriere doch noch zu retten. Doppelspezialist Bob Bryan, der ebenfalls unter Hüftproblemen litt, rät zu einer speziellen Operation, die ihm selbst eine schmerzfreie Rückkehr auf die Tour ermöglichte: dem «Birmingham Hip Resurfacing System».
Die Prozedur ist eine Alternative zur klassischen künstlichen Hüfte. Dabei werden Murray Teile des Hüftknochens abgeschliffen und mit einer Metalllegierung ummantelt. So kann vermieden werden, dass im Gelenk Metall auf Metall trifft.
Wenige Monate später steht der 32-Jährige bereits wieder auf dem Tennisplatz. Er bestreitet im Doppel erste Turniere und kehrt im Vorfeld der US Open auch auf die Einzel-Tour zurück. Murray war gelöst, konnte endlich wieder schmerzfrei spielen. Doch was gestern in Antwerpen passierte, damit haben auch die kühnsten Optimisten nicht gerechnet.
Er kämpft sich in den Final, bezwingt auf dem Weg dorthin Pablo Cuevas, Marius Copil und Ugo Humbert und trifft im Endspiel dann auf Stan Wawrinka. Der Schweizer, der in der jüngeren Vergangenheit ebenfalls von diversen Verletzungen geplagt wurde, fordert Murray alles ab. «Ich wollte Ende des zweiten Satzes einfach nur überleben», wird der Schotte nach dem Spiel sagen.
Doch am Ende gibt es das unglaubliche Happy End. Andy Murray gewinnt in drei Sätzen. Neun Monate nach der schweren Operation stemmt er wieder einen Pokal in die Höhe – den ersten seit Dubai im März 2017. Und er weint wieder. Doch dieses Mal ist es anders. Es sind Tränen der Freude, der Erleichterung, die in Murrays Augen glitzern.
«Es gibt heute viele Gründe für mich, emotional zu sein», erzählt der 32-Jährige nach seinem Triumph. Der Erfolg sei für ihn selbst auch überraschend: «Ich habe mich noch nicht bereit gefühlt, ein Turnier zu gewinnen. Doch es ist passiert.»
Auch der unterlegene Wawrinka weiss, was der Sieg bedeutet: «Ich bin zwar traurig, dass ich verloren habe. Aber ich bin froh, dass du, Andy, wieder zurück auf diesem Niveau bist. Du verdienst es. Du bist ein unglaublicher Spieler.» Der Romand ist mit Murray gut befreundet und unterstützte ihn auch während dessen Abwesenheit von der Tour
Derweil gehen Murrays Pläne schon weiter. Er wird im Januar ans Australian Open in Melbourne zurückkehren. Jenem Ort, an dem er vor einem Jahr die Tenniswelt geschockt hat, und dort sein Grand-Slam-Comeback im Einzel geben.
Er weiss nun wieder, dass er mit der Weltspitze mithalten kann. Und – noch viel wichtiger – er sagt: «Meine Hüfte ist absolut schmerzfrei. Das ist das Gute an Metall – es hat keine Schmerzrezeptoren.»