Die Wirklichkeit übertrifft inzwischen jede Fiktion. Das Rennen der Königsklasse beim GP von Italien in Mugello ist in vollem Gange. Begeisternder Rennsport. Valentino Rossi ringt um einen Platz auf dem Podest.
Aber wo ist Tom Lüthi? Er sitzt bereits frisch geduscht, gebürstet und gekämmt in seinem BMW. Er hat sich schon auf den Heimweg gemacht und versucht, vor dem Ende des Rennens aus dem Fahrerlager zu gelangen und dem Verkehrschaos zu entkommen.
Wer böse ist, mag sagen: Er schafft auch das nicht. Selbst auf der Landstrasse sind andere schneller. Item, er bleibt auf dem Weg von der Rennstrecke durch die toskanischen Hügel zur Autobahn im Stau stecken.
Der Emmentaler, der diese Saison die Königsklasse erobern wollte, auf der Heimfahrt bevor das Rennen zu Ende ist. Das sagt alles. Was ist passiert?
Auf dem Weg von seinem Motorhome zu seiner deutschen Benzinkutsche erwischt der Chronist den desillusionierten Helden. Von einer geordneten Medienarbeit, die von den MotoGP-Teams mit viel Brimborium zelebriert wird, ist schon längst keine Rede mehr. Nach den Trainings gibt es Interview im Stehen zwischen Ölfässern hinter der Box und im Lärm des geschäftigen Treibens im Fahrerlagers ist kaum ein Wort zu verstehen. Und jetzt reicht es grad noch im Stehen vor der Heimfahrt. Wie muss es da erst recht in der Box zu und hergehen. Dort, wo an Höllenmaschinen hochkonzentrierte Präzisionsarbeit geleistet werden müsste?
Tom Lüthi ist freundlich, nimmt sich, bevor er enteilt, Zeit und sagt unter anderem einen Satz, der aufhorchen lässt: «Unter solchen Umständen kann man nicht arbeiten.» Aber er kann diese Umstände nicht beeinflussen. Einer der grössten Schweizer Motorradrennfahrer aller Zeiten ist ein Opfer der Umstände.
Der Weltmeister von 2005 schildert kurz und präzis sein Malheur im Rennen. Er sei recht gut beim Start weggekommen. Aber dann sei Xavier Simeon in der zweiten Runde vor ihm ins Rutschen geraten. Er sei mit ihm zusammengestossen und gestürzt. «Dabei habe ich den Kopf heftig aufgeschlagen. Aber jetzt bin ich wieder okay. Es war Pech, ich fuhr zur falschen Zeit am falschen Ort…» Und er richtet noch aus, wenn weitere Fragen seien, möge man ihn doch auf dem Handy anrufen. Er habe auf der Heimfahrt mit dem Auto schon Zeit, Auskunft zu geben.
Seit 2006 wird eine offizielle Statistik der Neulinge in der Königsklasse geführt. Bis heute zählen wir exakt 50 «Rookies». 48 davon haben bereits in ihrer ersten Saison WM-Punkte geholt. Nur zwei noch nicht: Xavier Simeon (mit dem Tom Lüthi soeben zusammengestossen ist) und eben Tom Lüthi.
Dafür führt der Emmentaler eine andere, eine beunruhigende Statistik an. Gleichauf mit Weltmeister Marc Marquez. Die Sturz-Statistik. Tom Lüthi ist nun achtmal gestürzt. Gleich oft wie der Titelverteidiger (der aber auch drei Rennen gewonnen hat). Öfter hat es im gesamten Zirkus bloss noch Sam Lowes in der Moto2-WM erwischt. Der Brite ist schon zwölfmal aus dem Sattel gefallen und ist seit Jahren ungekrönter Sturzkönig.
Diese Statistik ist beunruhigend. Tom Lüthi ist von seinem Stil her alles andere als ein Bruchpilot. Er pflegt bei weitem nicht den aggressiven Fahrstil eines Marc Marquez. Er ist ein kluger, eleganter Stilist.
Zur Erklärung hilft ein Vergleich mit dem Skisport: Tom Lüthi ist mehr ein Riesenslalomfahrer, seine Konkurrenten sind eher Abfahrer. Stürze in der «Königsklasse», mit Spitzengeschwindigkeiten über 300 km/h, sind gefährlich. Tom Lüthi riskiert nicht nur seine Karriere. Er riskiert unter diesen Umständen seine Gesundheit.
Oder wird das Chaos im Team bald gelöst? Kehrt nun Ruhe ein? Nein, so sieht es nicht aus. Es ist inzwischen noch schlimmer geworden.
Am Freitag hatte Graf Marc van der Straten versichert, er habe nun sein Team unter Kontrolle. Sein ungetreuer Teammanager Michael Bartholemy sei nach der Entlassung ganz aus dem Geschäft und werde gerichtlich in Belgien und in der Schweiz belangt. Nun kehre Ruhe ein.
Es war bloss die Ruhe vor dem nächsten Sturm. Am Samstag machte Michael Bartholemy die Runde bei den Mechanikern und sonstigen Teammitgliedern und versicherte ihnen, er sei nach wie vor handlungsbevollmächtigt. Und natürlich unschuldig.
Es zeichnet sich ab: Der Belgier setzt offensichtlich alles daran, juristisch Teamchef zu bleiben, das Team zusammenzuhalten und für nächste Saison einem Investor zu verkaufen. Und immer mehr stellt sich die Frage: ist der Graf, der das ganze Team finanziert, juristisch eigentlich gut beraten? Oder hat der belgische Bier-Milliardär nicht darauf geachtet, welche Verträge er unterschrieben, wem er welche Vollmachten er gegeben hat?
In dieser «Lindenstrasse des Rennsportes» folgen bereits in zwei Wochen beim GP von Katalonien in Barcelona die nächsten Folgen.