Kaum steigt die Strasse an, gibt es für ihn kein Halten mehr. Marco Pantani, der mit einer Grösse von 1,72 Metern und 52 Kilogramm die perfekten körperlichen Voraussetzungen zum Kletterer besitzt, ist in den 90er-Jahren der unumstrittene Bergspezialist im Peloton und kämpft an der Tour de France nach ersten Achtungserfolgen bald auch um den Gesamtsieg mit.
Pirat wird der Italiener liebevoll genannt. Abgeleitet von seinem Kopftuch, das er auf seinem kahlen Schädel zum Schutz vor der Sonne immer trägt und jeweils vor dem entscheidenden Angriff theatralisch vom Kopf reisst. Eine Helmpflicht gibt es damals noch nicht.
An diesem denkwürdigen 19. Juli 1997, unter der Hitze der französischen Sommersonne, zeigt Pantani erneut, wer der Chef am Berg ist. Er lässt keine Zweifel aufkommen, wer die Königsetappe mit dem bedeutendsten Anstieg des Velozirkus, den 21 Kehren von Le Bourg-d'Oisans auf die Alpe d'Huez, gewinnen wird.
Trocken wie immer tritt L'Elefantino, wie man ihn wegen seiner abstehenden Ohren auch nennt, in die Pedale – und zieht mit einem unwiderstehlichen Zwischensprint allen davon. Der Gesamtführende Jan Ullrich sieht gerade noch Pantanis gelbes Velo davonziehen, da ist es auch schon weg. Unbestechlich spurtet der 27-Jährige Richtung Tagessieg – sein zweiter auf der Alpe d'Huez.
Und der erste von zwei Etappensiegen der Tour 1997 nimmt historischen Wert an. Der Italiener braucht für den Anstieg nur 37 Minuten und 35 Sekunden, was bis heute Rekordzeit ist. Seine eigene Bestzeit aus dem Jahr 1994 pulverisiert er um 25 Sekunden. Die Tour beendet Pantani schliesslich auf Platz 3 hinter dem Deutschen Ullrich und dem Franzosen Richard Virenque. Zu diesem Zeitpunkt ahnt noch niemand, dass er – wie die meisten anderen im Peloton auch – mit dem Dopingmittel EPO vollgepumpt ist. Das kann ihm erst 2013 endgültig nachgewiesen werden.
Die Rekordfahrt ist trotzdem beeindruckend – den heimischen Giro d'Italia muss Pantani im Frühling nämlich noch verletzungsbedingt aufgeben. In der ersten Etappe überquert eine weisse Katze die Strasse, wobei Pantani stürzt und verletzt ausscheidet. Knapp zwei Monate später die grosse Machtdemonstration auf der Alpe d'Huez – er wird zur lebenden Legende.
Bei seinem Sturz im Giro bricht eine Verletzung, welche er sich 1995 zugezogen hatte, wieder auf. Damals preschte der aufstrebende Jungstar haarscharf an seinem Karriereende vorbei. Im Schlussteil des Strassenrennens Mailand – Turin prallte er mit Tempo 80 km/h in einen entgegenkommenden Jeep und zog sich schwere Beinverletzungen zu. All dies, nachdem ihn im gleichen Jahr bereits im Training für den Giro ein Auto angefahren hatte – Rückschläge, welche den introvertierten Kämpfer nur stärker machen.
Doch der Sturz 1995 bereitet dem Bergspezialisten noch eine weitere Unannehmlichkeit, die seinem Status als Publikumsliebling in die Quere kommt. Beim Bluttest im Spital wird zum ersten Mal ein Hämatokritwert von über 60 Prozent gemessen, was fünf Jahre später eine Sperre zur Folge hat. Während die Fans weiterhin zu ihrem Liebling aufschauen, interessiert sich die Justiz nur noch für den Dopingsünder.
Am 5. Juni 1999 folgt der endgültige sportliche «Todesstoss». Vor der zweitletzten Etappe des Giros wird Pantani in Madonna di Campiglio als Leader von der Rundfahrt ausgeschlossen, weil ihm ein zu hoher Hämatokritwert nachgewiesen wird.
Für den Piraten, der später auch Kunde von Dopingarzt Eufemiano Fuentes ist, kracht eine Welt zusammen. Ausgerechnet auf dem Höhepunkt seiner Karriere angelangt, droht alles in sich zusammenzufallen. Ein Jahr nachdem er als erst zweiter Italiener und bis heute letzter Fahrer im selben Jahr den Giro und die Tour gewinnen konnte.
So rasant Pantani bergauf spurtete, so schnell fällt der beliebte Radstar. Und wie auf dem Asphalt kann ihn auch da niemand aufhalten. Obwohl er im fast vollständig gedopten Fahrerfeld noch immer zu den Besten gehört, verfällt der Held der Öffentlichkeit im Kampf gegen die Justiz zu einem psychischen Wrack. «Den Piraten gibt es nicht mehr», sagt er bei einem seiner letzten öffentlichen Auftritte.
Nach dem letzten Aufbäumen im Jahr 2003 startet Pantani ein weiteres Mal am Giro d'Italia. Doch kurz nach einem Sturz und der Nichteinladung an die Tour de France wird bekannt, dass sich Pantani zur Behandlung von Depressionen in einer Nervenklinik aufhält.
Der gefallene König der Berge zieht sich immer mehr zurück, lässt seine Freunde und Familie links liegen, trägt sogar das Handy nicht mehr mit sich rum. Am 14. Februar 2004 wird Pantani dann tot in seinem Hotelzimmer in Rimini aufgefunden. Offiziell beendete eine Überdosis Kokain das Leben des Piraten. Noch immer ranken sich aber Verschwörungstheorien, welche die Mafia und Wettpaten beinhalten, um sein Ableben.
Gesichert ist: Noch Jahre nach seinem Tod steht Pantani zusammen mit Lance Armstrong und Jan Ullrich für die vergiftete Generation des Radsports. Der begnadete Bergfahrer erzielt seine Glanzresultate in jenen Jahren, als der Dopingmissbrauch (wohl) seinen Höhepunkt erreicht hatte. Im Gegensatz zu Lance Armstrong, dem seine sieben Tour-Siege aberkannt werden, ist Pantanis grösster Erfolg aber noch heute in den Geschichtsbüchern vertreten.