Er ist der lebende Beweis, dass es bei Olympischen Spielen nicht nur um Medaillen geht: Michael «Eddie» Edwards. Seit er ein kleiner Bub ist, träumt er davon, einmal an den Spielen teilzunehmen. Er versucht sich als Skifahrer, verpasst die Olympiaqualifikation für Sarajevo 1984. Leider ist der weitsichtige Michael nicht mit übermässig grossem sportlichen Talent gesegnet. Dafür mit einer grossen Portion Bauernschläue.
Als Edwards in Lake Placid, der Olympiastadt von 1980, ist, entdeckt er die Skisprungschanzen und stellt fest, dass die Sportart einerseits olympisch ist und es andererseits keinen einzigen britischen Athleten gibt, der sie ausübt. «Also habe ich mir gedacht, dass ich das mal versuchen sollte», erinnert er sich.
Der internationale Durchbruch gelingt ihm 1987, keine zwei Jahre nachdem er erstmals vom Skispringen gehört hat. Mit 73,5 Metern stellt er an der WM in Oberstdorf den britischen Rekord auf.
Dass der Maurer mit den Flaschenböden als Brille mit dieser Leistung Letzter wird – wen kümmert's? Die Herzen des Publikums erobert der 24-Jährige im Sturm. Michael Edwards nennt ihn niemand mehr, fortan ist er ein Adler: «Eddie The Eagle».
1988 in Calgary geht der grosse Traum des kleinen Vogels aus dem englischen Cheltenham in Erfüllung: Er ist Teilnehmer Olympischer Spiele. Einige Kilos schwerer als alle Konkurrenten, mit schlechterer Technik, aber mit genau gleich grossem Mut stürzt er sich in die Tiefe.
Abgeschlagen Letzter auf der Normalschanze, Schlusslicht auf der Grossschanze, aber Erster bei den Fans. Angeblich unterbricht selbst der amtierende US-Präsident Ronald Reagan eine Sitzung kurz, um das Phänomen der Schanze zu sehen.
An der Abschlussfeier vor 100'000 Zuschauern erwähnt ihn OK-Chef Frank King in seiner Rede, als er die Leistungen der Sportler würdigt: «Sie haben Weltrekorde gebrochen, persönliche Bestleistungen aufgestellt und einer von ihnen flog gar wie ein Adler!»
Für Edwards stellen diese Worte den grössten Moment seiner Karriere dar: «Ich habe heute noch Gänsehaut, wenn ich daran denke.»
Als er zurück nach England fliegt, erwarten ihn am Gepäckband zwei Dutzend Polizisten. «Wir helfen Ihnen, durch den Flughafen zu kommen», sagen sie dem verdutzten Skispringer.
Dieser realisiert erst als sich die Türen öffnen, was in der Heimat los ist: Mehr als 10'000 Leute erwarten ihn in London-Heathrow, Fernsehteams und Zeitungsreporter reissen sich um ihn. «Da wurde mir bewusst, dass ich offensichtlich etwas ausgelöst habe.»
Den plötzlichen Ruhm nutzt der Engländer. Er schreibt ein Buch, nimmt Platten auf und ist mit diesen vor allem in Finnland populär – der Heimat von Matti Nykänen, dem 2019 verstorbenen zweifachen Goldmedaillengewinner von Calgary.
«Zwei Jahre lang war ich unterwegs», blickt Edwards zurück. «Ich habe Einkaufszentren eröffnet, Achterbahnen und Hotels. Habe Schauspieler getroffen, unzählige Fernsehauftritte gehabt und bin um die ganze Welt geflogen. Aber nichts war so gut, wie in Calgary auf der Schanze oben zu stehen.»
«99 Prozent der anderen Springer fanden es gut, was ich tat», sagt der Adler. «Dank mir kam ihr Sport plötzlich auf Seite eins». Aber den Funktionären ist der hüpfende Clown ein Dorn im Auge, so sehr er die Ernsthaftigkeit seines Unterfangens auch beteuern mag.
Wegen «Eddie The Eagle» verschärfen sie die Regeln so, dass Exoten nur noch an Olympischen Spielen teilnehmen dürfen, wenn sie ein gewisses Niveau erreichen. Es ist nicht sein einziges Vermächtnis: Die aussergewöhnliche Karriere von Michael «Eddie» Edwards wird 2016 fürs Kino verfilmt.
Olympia lebt von den Aussenseitern.