Länger, schneller, Lauberhorn. Die Abfahrt von Wengen sprengt mit 4,5 Kilometern Länge und Spitzengeschwindigkeiten bis zu 161 Stundenkilometern alle Rekorde. Nur komplette Rennfahrer haben auf dem Teufelskurs vor der majestätischen Kulisse mit Eiger, Mönch und Jungfrau eine Chance.
Ob Hundschopf, Kernen-S oder der Canadian Corner: Die knüppelharten Schikanen des Klassikers verzeihen kein Defizit an Muskelkraft, Kondition und blitzschnellen Reflexen.
Das Spektakel und der Nervenkitzel locken die Schaulustigen jedes Jahr in Massen nach Wengen. Seit 2009 pilgern bei der Abfahrt immer mindestens 30'000 Fans an den Berg. Gleichzeitig knackt die Zahl der Schweizer TV-Zuschauer regelmässig die magische Millionengrenze.
1939, wenige Monate vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, sind die Fahrer noch halb so schnell unterwegs und auch der Zuschaueraufmarsch in Wengen hält sich in Grenzen. Doch das Engagement der einheimischen Fans soll bei der zehnten Austragung der Lauberhornabfahrt eine entscheidende Rolle spielen.
Mit Karl Molitor steht einer der ganz Grossen des Schweizer Schneesports zum ersten Mal in der obersten Kategorie seines Heimrennens am Start. Der 20-jährige Sohn eines Schuhmachers hat im Jahr zuvor bereits den Junioren-Wettbewerb für sich entschieden und steht kurz vor dem endgültigen Durchbruch.
Und bei diesem Projekt hat Molitor einen aussergewöhnlichen Verbündeten. Am Abend vor der Abfahrt bittet ihn ein Lehrer aus dem Ort um ein Geheimgespräch. Der verrückte Grund: Gemeinsam mit seinen Schülern hat der fleissige Pädagoge für Molitor eine Abkürzung präpariert.
Was heute kaum noch denkbar scheint, ist vor 76 Jahren offenbar kein Problem. Während die Helfer des Rennens damit beschäftigt sind, die Bäume mit Matratzen aus umliegenden Hotels zu polstern, haben die Schulkinder unter Anleitung des Lehrers eine 150 Meter lange Schneise in den Tiefschnee gestapft. Wo die anderen Athleten eine Rechtskurve fahren müssen, soll Molitor das Tor dank der Abkürzung direkt ansteuern und sich so einen Vorteil verschaffen.
Und tatsächlich fackelt Karl Molitor nicht lange und nimmt das unmoralische Angebot im Rennen an. Doch seine Privatpiste wird ihm beinahe zum Verhängnis. Kurz vor seinem Tod im Jahr 2014 erinnert er sich in der «Jungfrau Zeitung» an den haarigen Moment: «Kurz vor der Wiedereinfahrt auf die Strecke wurden mir die eineinhalb Meter schmale Spur und die 30 Zentimeter Neuschnee zum Verhängnis.» Molitor kann mit seinen 2,20 Meter langen Holzskiern nicht richtig bremsen und stürzt.
Doch das junge Schweizer Schlitzohr rappelt sich wieder auf und rettet sich mit Hilfe seiner Stöcke über die Ziellinie. Obwohl er durch das Malheur viel Zeit verliert, gewinnt Molitor seine Premiere am Lauberhorn mit neun Sekunden Vorsprung. Geschlagen folgen auf Platz 2 und 3 die Österreicher Willi Walch und Josef Jennewein, die unter der Flagge von Nazi-Deutschland fahren.
Doch ist solch ein erschummelter Erfolg überhaupt etwas wert? Molitor verteidigt sich: «Ich bin alle Kontrolltore gefahren. Der Sieg war verdient und hätte auch ohne die Abkürzung geklappt. Meine Kontrahenten waren praktisch zu Fuss unterwegs.»
Und überhaupt soll sein erster Triumph am Lauberhorn nicht der letzte bleiben. Bis 1947 dominiert Molitor sein Heimrennen fast nach Belieben. Ohne Abkürzungen folgen fünf weitere Siege in der Abfahrt, zwei im Slalom und drei in der Kombination. Bis heute steht der Schweizer mit elf Siegen als Rekordhalter in den Geschichtsbüchern.
Nach einmal WM-Bronze 1939 sichert sich Molitor 1948 zum Abschluss seiner Karriere mit Abfahrts-Silber und Kombi-Bronze auch noch olympisches Edelmetall. Dass es nicht für mehr Medaillen an Grossanlässen reicht, ist hauptsächlich dem Zweiten Weltkrieg geschuldet. Just während Molitors Blütezeit fallen aufgrund der Kriegswirren zwei Olympische Winterspiele und vier Weltmeisterschaften aus.
Auch finanziell lohnen sich die vielen sportlichen Erfolge nicht. Molitor muss als Bergführer und Skilehrer jobben, denn vom Skirennsport lässt es sich damals noch nicht leben.
Trotzdem nutzt Molitor seine Karriere, um sich eine erfolgreiche Zukunft als Unternehmer aufzubauen. Nach acht Schweizer Meistertiteln nimmt er 1947 auch an den US-Skimeisterschaften teil und gewinnt prompt in drei Disziplinen. Er nutzt die Gunst der Stunde und knüpft viele Kontakte in Übersee. Nach seinem Rücktritt baut er mit deren Hilfe ein florierendes Export-Geschäft mit handgemachten Schweizer Skischuhen auf. Molitors Business wird in Wengen zum wichtigen Wirtschaftsfaktor: Zur Blütezeit beschäftigt der Patron 65 Schuhmacher.
Auch dem Lauberhornrennen bleibt Molitor noch jahrelang treu. Bis 1992 ist er 35 Jahre lang als Rennchef verantwortlich. Am 25. August 2014 stirbt die Ski-Legende im Alter von 95 Jahren in einem Altersheim in Grindelwald.
Dann könnte das Hotel werben:
Sie schlafen auf einer Matratze, wo der Abfahrtsmeister XY knapp daran vorbeigefahren ist.
Das wäre doch mal ein Werbeslogan.
Mann kann während des Rennens zwar nicht im Hotel übernachten, da keine Matratzen vorhanden, aber das ist ja kein Problem, bei nur 30'000 Zuschauern. ;-)