Weisst du noch, wer an der WM 1994 in den USA Torschützenkönig wurde? Nein? Es war Oleg Salenko. Du erinnerst dich aber bestimmt noch an Roberto Baggio. An den «göttlichen Zopf» und wie er im Final gegen Brasilien zum tragischen Helden wurde. Das Scheitern im wichtigsten Moment seiner Karriere.
0:0 steht es im WM-Final im Rose Bowl Stadium in Pasadena nahe Los Angeles nach 120 Minuten zwischen der Squadra Azzurra und der Seleção. Erstmals in der WM-Geschichte muss ein Penaltyschiessen darüber entscheiden, wer Weltmeister wird und wem die Tränen von den Backen kullern werden.
Italien hat keine guten Erinnerungen an die Kurzentscheidung. 1990 bei der WM im eigenen Land verliert der damals dreifache Weltmeister sein erstes WM-Elfmeterschiessen im Halbfinal gegen Argentinien. Roberto Donadoni und Aldo Serena scheitern an Penalty-Killer Sergio Goycochea.
Auch gegen Brasilien beginnen die Azzurri katastrophal. Libero Franco Baresi hämmert den Ball mit viel Rücklage über den Kasten von Brasil-Keeper Taffarel. Doch auch Brasiliens erster Schütze scheitert. Gianluca Pagliuca im Tor der Italiener macht Baresis Schnitzer mit einer Glanzparade gegen Marcio Santos wieder gut.
Dann treffen der Reihe nach Demetrio Alebertini, Romario, Alberigo Evani und Branco. Es steht 2:2, als Taffarel den Schuss von Daniele Massaro unschädlich macht. Und weil Captain Carlos Dunga souverän versenkt, ist klar, dass der letzte italienische Schütze Roberto Baggio jetzt treffen muss.
Der Stürmer von Juventus Turin nimmt einen langen Anlauf, um den Ball danach weit übers Tor zu schiessen. Während Baggio seinem Fehlschuss noch sekundenlang nachsieht und dann den Blick senkt, bricht bei den Brasilianern kollektiver Freudentaumel aus. Italiens Nummer 10 dagegen ist zu diesem Zeitpunkt der einsamste Mensch auf dem Planeten.
«Es ist eine Wunde, die sich niemals schliesst», sagt Baggio später. «Ich hatte immer davon geträumt, einen WM-Final gegen Brasilien zu spielen. Aber als es dann Realität wurde, da verschoss ich einen Elfmeter.» An den schwierigsten Moment seiner Karriere erinnert er sich später gut. «Ich habe das Ganze sehr bewusst erlebt, und ich war voll konzentriert. Auf der anderen Seite war ich derart erschöpft, dass ich es mit der Brechstange versucht habe.»
Mit fünf Toren in der K.-o.-Runde hatte Baggio Italien nach einer katastrophalen Vorrunde praktisch im Alleingang in den Final geschossen. Zum Schluss ist der Mann mit dem Zöpfchen aber der tragische Held. Doch anstatt den Stürmer zum Deppen der Nation abzustempeln, lieben ihn die Tifosi nach dem verlorenen WM-Final noch mehr als zuvor.
Roberto Baggios Stern geht an der WM 1990 zuhause in Italien auf. Der damals 23-jährige Jungspund trifft zwar nur in der Vorrunde beim 2:0 gegen die Tschechoslowakei und im kleinen Final beim 2:1 gegen England und bleibt damit klar im Schatten von Stürmerkollege Toto Schillaci, doch allen ist klar, dass hier ein künftiger Superstar heranreift.
Der nur 1,74 Meter grosse Baggio bringt alles mit, was ein Stürmer braucht. Er ist schnell, technisch versiert, schussstark und hat einen ausgeprägten Torriecher. Weil er auch als Vorbereiter glänzt, gilt er als erste «Neuneinhalb» der Fussball-Geschichte. «Baggio ist keine klassische Nummer 9. Und auch keine zehn, sondern vielmehr eine ‹halbe› Nummer 10», stellt der spätere UEFA-Präsident Michel Platini damals fest.
Unmittelbar nach der WM im eigenen Land wechselt Baggio für 15 Milliarden Lire (18 Millionen Franken) vom AC Florenz zu Juventus Turin. Die Viola-Fans zerlegen daraufhin die Altstadt, Baggio wird zum teuersten Fussballer der Geschichte. Bei der «Alten Dame» hat er seine stärkste Zeit. In 141 Spielen erzielt er 78 Tore, 1993 wird er zum Weltfussballer gewählt. «Il Divino» wird er genannt, der Göttliche, weil er so über den Rasen schwebt wie Jesus einst über das Wasser.
Als die Haare länger werden und er sich den für ihn typischen Zopf flechten lässt, wird daraus «Il divin Codino», der göttliche Zopf. Die ganz grossen Titel bleiben ihm allerdings auch im Klubfussball verwehrt. Zweimal wird er mit Juve italienischer Meister, einmal UEFA-Cup-Sieger. «Er kann Fussball spielen wie noch nicht mal die Heiligen im Paradies», sagt Luigi Maifredi, sein erster Trainer in Turin.
Doch immer wieder wird er von Verletzungen zurückgeworfen. Eine Operation folgt auf die andere. Wieder Pause, wieder Reha, wieder Neuanfang. «Ich habe eigentlich höchstens mit anderthalb Beinen gespielt», schreibt Baggio später in seiner Biographie «Ein Tor im Himmel». Das rechte Knie wird für den Rest seiner Karriere bei Milan, Bologna, Inter und Brescia der grosse Schwachpunkt des gläubigen Buddhisten und Querdenkers bleiben.
Schon nach dem verschossenen Elfmeter von 1994 ist seine Karriere in der Squadra Azzurra faktisch vorbei. Arrigo Sacchi und später Cesare Maldini setzen nicht mehr auf ihn. 1999 folgt der Rücktritt, doch Giovanni Trappatoni gewährt dem in die Jahre geratenen Superstar 2004 doch noch einen würdigen Abgang. Baggio läuft im Freundschaftsspiel gegen Spanien zum 56. und letzten Mal im Trikot der Azzurri auf.
Mit 27 Toren liegt er zusammen mit Alessandro del Piero noch immer auf Rang 4 der ewigen Torjägerliste. Nur Gigi Riva (35), Giuseppe Meazza (33) und Silvio Piola (30) trafen noch öfter. Drei Wochen nach dem späten Comeback in der Nationalmannschaft bestreitet Baggio mit Brescia endgültig das letzte Spiel seiner Karriere.
Dem Fussball kehrt er komplett den Rücken, allerdings nur vorerst. Als die «Squadra Azzurra» an der WM 2010 in Südafrika in der Vorrunde scheitert, ist es der leicht ergraute Baggio, von dem sich der italienische Verband Heilung verspricht. Nach drei Jahren als Technischer Direktor tritt Baggio aber bereits wieder zurück. Seine Reformpläne, die er in einem 900-seitigen Bericht verfasst hat, werden zurückgewiesen.
Danke für den schönen Artikel.