Ausnahmezustand in Linden BE: Am Sonntagmorgen um 10 Uhr herrscht bereits seltsame Betriebsamkeit im 1300-Seelen-Dorf im Emmental. Motorräder, Autos und Cars verstopfen die Strassen, vor dem Festzelt warten bereits hunderte Töff-Fans auf den Einlass. Sie alle sind gekommen, um Tom Lüthi auf dem Weg zu seinem ersten WM-Titel zu unterstützen.
Rund 1300 Kilometer südwestlich macht sich der 19-Jährige auf den Weg zum Start. Beim GP von Valencia auf dem Circuit Ricardo Tormo braucht Lüthi mindestens den Rang 13, um Konkurrent Mikka Kallio in der WM-Wertung hinter sich zu lassen und 20 Jahre nach Stefan Dörflinger der dritte Schweizer Solo-Töff-Weltmeister zu werden.
Es ist eine machbare Aufgabe, schliesslich hat Lüthi in dieser Saison schon viermal gewonnen und ist insgesamt acht Mal aufs Podest gefahren. In Linden wächst die Anspannung trotzdem, beim Start ist es im Festzelt mucksmäuschenstill.
Tom Lüthi dagegen gibt den coolen Hund. «Ich muss nur konzentriert und ruhig bleiben, dann klappt das schon», sagt er vor dem wichtigsten Rennen seiner Karriere. Der Berner startet von Position 4 aber verhalten. Den Plan, von Anfang an vorne weg zu fahren, muss er schnell über Bord werfen.
Lüthi reiht sich hinter der Spitze ein, fährt ein kontrolliertes Rennen. In Linden steigt der Stimmungspegel. Schweizer Fahnen werden geschwenkt, Kuhglocken geläutet und die mehr als 2500 Kehlen skandieren im Chor: «Hopp Tom, hopp Tom!» Das Bibbern weicht immer mehr der Gewissheit: «Er wird es schaffen.»
Auch ein plötzlich auftauchendes Bremsproblem kann den Bauernbub nicht stoppen. «Das Hinterrad wurde etwas eingeklemmt und bremste leicht. Ich habe es bemerkt, aber es hat mich nicht sehr gestört», so Lüthi später. Bis zur letzten Runde hält die Anspannung, dann weicht sie auch beim Piloten der Freude. «Eigentlich ist das Rennen ja erst zu Ende, wenn die Ziellinie überquert wurde. Eine halbe Runde vor Schluss habe ich mich aber bereits über den WM-Titel gefreut. »
Lüthi fährt schliesslich als Neunter über die Ziellinie – er hat es geschafft. «Ich kann noch nicht fassen, was alles gelaufen ist. Ich bin so müde wie nie am Abend eines Renntages. Zum Glück sind meine Eltern auch hier in Valencia. Ohne sie wäre ich nie Weltmeister geworden.»
242 Punkte hat Lüthi schliesslich auf dem Konto, fünf mehr als Rivale Kallio. Während sich der neue Weltmeister mit der Schweizer Fahne auf die Ehrenrunde begibt und sich den goldenen Helm abholt, knallen in Linden die Champagner-Korken. Die Fans liegen sich in den Armen. «De Tom isch eifach e geile Siech», schreien die jungen Mädchen in die Mikrofone der Reporter.
Tom Lüthi hat noch keine Zeit zum Feiern. Er hetzt von einem Interview zum nächsten, posiert mit MotoGP-Champion Valentino Rossi und 250-ccm-Weltmeister Dani Pedrosa für ein gemeinsames Foto. Anderthalb Stunden nach dem Rennen klingelt plötzlich das Handy von TV-Reporter Sascha Ruefer. Es ist Bundespräsident Samuel Schmid, der den Weltmeister sprechen will.
«Grüessech», sagt Lüthi höflich. Der Sportminister gratuliert Tom zur taktisch klugen Fahrweise und erzählt ihm, wie er vor dem TV mitgefiebert habe. «Dann hat er mir das Du angeboten und gesagt ‹Ig bi de dr Samuel›.» Und während sie in Linden den Fest-Sonntag langsam ausklingen lassen, kann endlich auch Tom Lüthi seinen Triumph geniessen. Mit dem Team stösst er im «Complex Esportiu-Cultural» auf den Titel an.
Die Euphorie um den 19-Jährigen kennt in den folgenden Tagen keine Grenzen. Bei der Rückkehr erwartet Lüthi am Flughafen Zürich-Kloten ein gigantischer Empfang. Dem sympathischen Emmentaler fliegen die Herzen der Schweizer nur so zu. Die «Weltwoche» weiss auch warum:
Auf Tom Lüthi, der eine Woche vor Weihnachten vor Wimbledon- und US-Open-Sieger Roger Federer zum «Sportler des Jahres» gekürt wird, wartet aber noch eine weitere Party. In seinem Heimatdorf haben die Bewohner ein weiteres grosses Fest organisiert.
Rund 4000 Fans, die Schweizer Töffhelden Luigi Taveri, Stefan Dörflinger, Jacques Cornu und Bundesrat Samuel Schmid sind gekommen, um dem neuen Schweizer Posterboy zum Titel zu gratulieren. Als Lüthi exakt eine Woche nach dem Rennen in Valencia das Festzelt betritt, brandet Riesenjubel aus. Im Emmental wird die Nacht zum Tag gemacht: Ausnahmezustand in Linden BE.