Seit Juni 2014 bereiten sich Jens Voigt und sein Team Trek Factory Racing auf den Stundenweltrekord vor, den Voigt im Velodrome Suisse in Grenchen brechen will. Auf die Frage, warum er sich einen Tag nach seinem 43. Geburtstag diese Quälerei antun will, antwortet Jens Voigt: «Es ist etwas für die Ewigkeit. Und ein ruhiger Typ war ich noch nie!»
Die Familie von Jens Voigt wird nicht dabei sein, weil seine sechs Kinder in Berlin zur Schule gehen. «Meine Kids sind begeistert, dass sie Papa heute Abend eine Stunde lang im Fernsehen zuschauen können. Und meine Frau – na ja, die reagierte auf den Stundenweltrekord-Versuch so, wie ich es erwartet habe», schmunzelt Jens Voigt und tippt sich an die Stirn.
Der Stundenweltrekord ist die angesehenste Rekordleistung im Radsport. Seit dem ersten Stundenweltrekord von 35,325 km im Jahre 1893 durch den späteren Tour de France-Gründer Henri Desgrange wurde er erst 34 Mal verbessert.
Ab 1984 kam es dabei zu einem absurden «Wettrüsten» mit aerodynamischen Spezialrädern und Sitzpositionen. Mit seinem bizarren «Big Wheel» mit übergrossem Hinterrad startete 1985 der Italiener Francesco Moser – und scheiterte grandios. Dafür war 1993 der Schotte Graeme Obree mit seiner extrem kompakten Obree-Sitzposition erfolgreich.
Im Jahr 2000 annullierte der Welt-Radsport-Verband UCI im Nachhinein die Stundenweltrekorde von 1984 bis 1996, die mit extrem aerodynamisch konstruierten Spezialrädern und mit Sitzpositionen erzielt wurden.
Die UCI beschloss, dass nur noch Rekorde gelten, die mit Diamantrahmen-Velos gefahren werden, die der technischen Ausstattung von Eddy Merckx von 1972 in Mexico entsprechen. Mit einem solchen Rad hat der Tscheche Ondřej Sosenka 2005 den bis heute gültigen Stundenweltrekord aufgestellt, der bei 49,700 Kilometern liegt.
Nachdem der Welt-Radsport-Verband Anfang Mai 2014 die Materialbestimmungen für den Stundenweltrekord etwas gelockert hat, dürfen neu auch Zeitfahrräder mit Triathlon-Lenker und Scheibenrädern verwendet werden. «Seither sind über vier Monate vergangen» erklärt Jens Voigt im Velodrome Suisse, «und ich finde es komisch, dass es noch niemand versucht hat.»
«Der Stundenweltrekord ist mental und physisch eine grosse Herausforderung für mich», sagt Voigt. «Mein Teamkollege Fabian Cancellara hat zusammen mit Trek monatelang daran gearbeitet. Nach der UCI-Regeländerungen hat er jedoch das Vorhaben aufgegeben, er wollte sich am legendären Stundenweltrekord von Eddy Merckx messen.»
Interesse an einem Rekordversuch haben auch schon der Deutsche Tony Martin und der Brite Bradley Wiggins bekundet. Sie haben aber noch keinen Termin festgesetzt.
Seit Juni 2014 haben Jens Voigt und sein Team Trek Factory Racing das Speed Concept 9 Series Zeitfahrrad optimiert. «Wir haben vor der Dauphiné im Juni heimlich mit den Tests begonnen!» Das Speed Concept mit Triathlon-Lenker gilt als das schnellste Rad für Zeitfahren und kostet schon in der «Normalversion» 13'000 Franken.
Für die Rennbahn mussten die Bremsen entfernt und mit Kohlenstoff-Blenden ersetzt werden, um die Oberflächengeometrie und damit die Aerodynamik nicht zu stören. Anstelle des schnellen Bontrager Aeolus 5 D3 Speichen-Laufradsatzes fährt Voigt aerodynamisch noch bessere Scheiben-Laufräder von Shimano (die aber das Bontrager-Logo tragen, um den Sponsor nicht zu verärgern).
Das Speed Concept von Jens Voigt wird von einer SRM / Shimano-Kurbelgarnitur und einem 54er Shimano-Kettenblatt der 9000er-Serie angetrieben, wie sie bei Strassenrennen verwendet werden. Auf der Bahn hat Voigt am Hinterrad natürlich nur einen Ritzel mit 14 Zähnen, so dass er mit einer Übersetzung von 54x14 fahren wird.
Das wichtigste «Detail» ist aber die Sitzposition, die perfekte Balance zwischen Aerodynamik und Biomechanik. Nachdem der Welt-Radsport-Verband UCI im Mai die seit 2000 geltenden strengen Regeln gelockert hatte, sind grosse Athleten wie Jens Voigt (191 cm bei 76 kg Gewicht) nicht mehr benachteiligt.
Jens Voigt arbeitet dafür seit Wochen mit dem Schweizer Bahn-Nationaltrainer Daniel Gisiger an seiner Sitzposition. «Aber ich glaube, es ist unmöglich, die perfekte Sitzposition eine Stunde lang durchzuhalten», erklärt Voigt. «Immerhin sieht es heute nicht schlecht aus für einen 43-jährigen Kerl von der Strasse», lacht Jens Voigt mit viel Understatement.
Voigt zollt seinen Vorbildern Chris Boardman (1996 mit einer extremen Sitzposition mit ausgestreckten Armen 56,375 km) und Eddy Merckx grossen Respekt. Nach dem später annullierten Stundenweltrekord von Boardman frühstückte Voigt mit dem Briten, «Chris konnte kaum vom Tisch aufstehen um ein Brötchen zu holen».
Eddy Merckx beschrieb nach seinem Stundenweltrekord 1972 die Angst des Athleten, «mit einer einzigen falschen Bewegung die Ideallinie oder den Rhythmus zu verlieren. Ein Augenblinzeln kann über Erfolg und Misserfolg entscheiden.» Nichts, absolut nichts, dürfe während einer Stunde die Konzentration stören. «Es ist der ultimative Test für Körper und Geist.»
«Der Stundenweltrekord kann man nicht mit einem Zeitfahren auf der Strasse vergleichen. Auf der Radrennbahn kann man nicht in den nächsten Gang schalten oder den Rhythmus ändern, ja nicht einmal eine Sekunde durchatmen. Die Stundenweltrekord erfordert eine permanente und extrem intensive Leistung, die mit keinem anderen Rennen verglichen werden kann. Ich schwöre, ich werde es nie wieder versuchen!»
Wenige Stunden vor dem Start steht Jens Voigt zum letzten Mal am Rand der Bahn im Velodrome Suisse. Sie ist 250 Meter lang und elf Meter breit, die Steilwandkurven sind einschüchternde 46 Prozent steil und 7 Meter hoch. «Das Schwierigste ist, in den beiden Steilwandkurven unten auf der schwarzen Linie zu bleiben. Denn oben auf der blauen Linie fahre ich eine längere Strecke und verliere viel Zeit», erklärt Voigt.
«Auf jeden Fall will ich eine 5 am Anfang, mein Ziel sind mindestens 50,5 Kilometer. Dafür werde ich beim Stundenweltrekord-Versuch leiden, wie nie zuvor», glaubt Jens Voigt mit einer Grimasse und zieht sich zurück in seine Kabine. Teamchef Jordan Roessingh ist optimistisch: «Jetzt muss sich Jens nur noch auf seine Aufgabe konzentrieren und in die Pedale treten».