12 Jahre alt ist Awet Gebremedhin, als ihm sein Vater ein Velo schenkt. Nun muss der Junge die 15 Kilometer Schulweg nicht mehr zu Fuss zurücklegen. Und er lernt eine Art der Fortbewegung kennen, die ihn im wahrsten Sinnes des Wortes noch weit bringen wird.
Im Herbst 2013 wird der Slowene Matej Mohoric U23-Weltmeister. Hinter ihm lauter andere Fahrer, die mittlerweile gestandene und teils höchst erfolgreiche Profis geworden sind: Louis Meintjes und Sondre Holst Enger holen die weiteren Medaillen, Caleb Ewan sprintet auf Rang 4, Julian Alaphilippe wird 9., Stefan Küng als bester Schweizer 27.
Auch Awet Gebremedhin ist in Florenz am Start, denn aus dem Schüler von einst ist ein talentierter Nachwuchs-Rennfahrer geworden. Aber um die Medaillen kann er in der Toskana nicht mitreden. Der junge Eritreer gehört zu den vielen Fahrern, die das Rennen aufgeben.
Doch in Florenz beginnt gleichzeitig sein zweites Leben. Der 21-Jährige fasst den Entschluss, nicht in die Heimat zurückzukehren. Stattdessen setzt er sich nach Schweden ab, wo bereits viele Landsleute leben und er um Asyl bittet.
«Ich hatte meinen Antrag gestellt und mich dann die meiste Zeit über nicht aus dem Haus getraut, weil ich fürchtete, ohne Papiere von der Polizei aufgegriffen zu werden», blickt Gebremedhin beim Portal «De Velo» zurück. Velorennen schaut er in dieser Zeit keine: «Ich hätte heulen können, weil ich nicht rausgehen und fahren konnte.»
Stattdessen bringt er sich mittels YouTube schwedisch bei, um es bei Befragungen durch Behörden anwenden zu können: «Ich hoffte, dass dies den Prozess vereinfacht.» Zwei Jahre lang sollte es dauern bis zur Bewilligung seines Gesuchs. Zwei Jahre, in denen Awet Gebremedhin seinen Traum, Radprofi zu werden, nie aufgegeben hat. «Ich ass in dieser Zeit nur sehr wenig, denn ich wusste, dass das ein Weg sein würde, auch ohne Training einigermassen fit zu bleiben. Ich hatte nichts anderes im Kopf, als Radprofi zu werden.»
Als er endlich den Bescheid erhält, dass er in Schweden bleiben darf, legt er wieder richtig los. Um Geld zu verdienen, sammelt er Pfandflaschen ein. «Es war Sommer und die Leute tranken zu viel. Das war schlecht für sie, aber gut für mich», erinnert er sich. Nach zwei Monaten hat er genügend Geld beisammen, um sich für knapp 1000 Euro Velo, Schuhe und Helm zu kaufen.
Gebremedhin kann nach langer Pause endlich wieder sein Training aufnehmen. Bis es Winter wird im hohen Norden, in Jönköping, wo er wohnt. Doch er fährt nun einfach drinnen weiter, auf einem Hometrainer. «Jeden Tag fünf Stunden, so kam ich in Form. Ich wusste, dass ich nach zwei Jahren ohne Rad würde hart arbeiten müssen, um es nach oben zu schaffen.»
Der Eritreer beginnt 2016, wieder an Rennen teilzunehmen. Er stellt fest: Fit genug ist er. Nur die Rennhärte fehlt noch. Doch mit jedem Wettkampf kehrt auch diese zurück. Gebremedhin fährt in einer Equipe, die Flüchtlingen eine Chance gibt. Und er fährt so stark, dass ihm ein kleines Team in Spanien einen Vertrag anbietet. Es ist bloss ein drittklassiges Continental-Team, aber immerhin: Es geht voran.
An der Portugal-Rundfahrt 2017 überzeugt das knapp 60 Kilogramm schwere Leichtgewicht. Mehrere Mannschaften kontaktieren ihn und eines Abends («Es war an einem Mittwoch um halb zehn») rief ihn der Teamchef von Israel Cycling Academy an, um ihm die magischen Worte zu sagen: «Du wirst Radprofi.» Ein Pro Continental Team, die zweithöchste Stufe.
«Mein Weg war hart», weiss der Eritreer. Es habe sich aber gelohnt, durchzuhalten. «Ich hatte mit meinen Schwedisch-Kenntnissen und dem Niederlassungsrecht die Möglichkeit, mir einen gewöhnlichen Job zu suchen, das wäre einfach gewesen. Aber ich verfolgte meinen Traum.»
Nun, mit 27 Jahren, hat Awet Gebremedhin einen neuen Höhepunkt in seiner aussergewöhlichen Laufbahn erreicht. Seit dem Samstag nimmt er am Giro d'Italia teil. Zum ersten Mal ist er an einer dreiwöchigen Rundfahrt am Start.
Nach einem Sturz lag er nach der 3. Etappe auf dem letzten Platz des Gesamtklassements, nun, da gestern weitere Fahrer wegen Stürzen viel Zeit einbüssten, liegen einige Kontrahenten hinter ihm. Wobei der Fokus ohnehin nie auf dem Kampf um die Maglia Rosa, dem Leadertrikot, lag.
Stattdessen will das Leichtgewicht in den Bergen glänzen. Die 9. Etappe hat er sich dick angestrichen: ein Bergzeitfahren hinauf vom Adria-Strand nach San Marino. Da will er glänzen. «Aber ich schaue nur von Tag zu Tag, man weiss nie, was kommt», sagte er vor Beginn der Italien-Rundfahrt zur Agentur AFP.
Noch fährt er nicht als Schwede, aber er hofft, eines Tages den schwedischen Pass zu erhalten und für seine Wahlheimat antreten zu können. «Ich bin wirklich glücklich und dankbar, dass ich die Möglichkeit erhalten habe, meinen Traum zu verfolgen.» Auf seinem Trikot sind die Flaggen beider Länder.
Der sportliche Leiter seiner Mannschaft, der finnische Ex-Profi Kjell Carlström, macht seinem Fahrer keinen Druck: «Wir wollen ihm die Möglichkeit geben, sich weiter zu verbessern und wir wollen sehen, wie er sich als Bergfahrer entwickelt.»
Selbst wenn ihm im Bergzeitfahren keine gute Leistung gelingen sollte, darf sich Gebremedhin bereits jetzt als Sieger sehen: «Für mich ist bereits mit der Teilnahme ein Traum wahr geworden.»
Werde die Daumen drücken, dass er es gut macht an der 9. Etappe 🤞
Erinnert mich ein bisschen (wenn auch andere Sportart) an Tadesse Abraham. Spannender Bericht im Sportpanorama vom letzten Sonntag über Tadesse.