Der Viertelfinal. Es ist das grosse Ziel dieser Schweizer Fussball-Generation. Wieder einmal stehen sie einen letzten Schritt davor. Im Weg steht nur noch Schweden. Und was diese Fussballer aus dem Norden so tun, das erinnert sehr an ihre IKEA-Möbel. Nicht wahnsinnig schön anzusehen. Aber wenn sie mal stehen, eben doch sehr viel robuster als gedacht.
Doch von diesen Schweden wollen sich die Schweizer nicht aufhalten lassen. «Heute schrauben wir euch auseinander», lautet das Motto. Der Weg für Vladimir Petkovic und seine Equipe soll nicht im Achtelfinal von St.Petersburg enden. Er soll weitergehen, am liebsten noch sehr viel weiter.
Die Chance scheint golden. Erwartet hatten die Schweizer einen Achtelfinal gegen Deutschland. Jetzt ist der Gegner ein anderer. Einer mit einem viel bescheideneren Renommee. Einer, der nicht die Klasse der stärksten Mannschaften der Welt besitzt. Einer aber, der es mit einem grossartigen Teamgeist weit gebracht hat – und darum keinen Grund bietet, ihn zu unterschätzen.
Es ist nach 2014 und 2016 die dritte Chance dieser Generation, an einer WM oder EM den Viertelfinal zu erreichen. Will sie in Erinnerung bleiben, muss sie diese Chance jetzt nützen. Dass sie das kann, davon geben sich Spieler und Trainer überzeugt. Dafür spricht die Mentalität, die sich die Schweizer in den letzten zwei Jahren angeeignet haben.
Ein einziges Spiel haben sie seit der EM verloren. 40 zu 12 lautet das Torverhältnis. Das Team wirkt robuster, kann auf Widerstände reagieren. Dazu kommt ein schier unerschütterliches Selbstvertrauen.
Dass dies auch Gefahren birgt, ist nur logisch. Wenn aus Selbstvertrauen Arroganz wird wie gegen Costa Rica zum Ende der Gruppenphase, kann das Turnier plötzlich ganz schnell zu Ende sein. Dann wird die WM nicht als Höhenflug, sondern als Bruchlandung in Erinnerung bleiben.
Doch daran denken mag niemand. Blerim Dzemaili bringt die Gedanken der Schweizer in einem Satz auf den Punkt. «Wenn nicht jetzt, wann dann?», fragt er. Gegen Argentinien 2014 hatten die Schweizer kein Glück. Gegen Polen 2016 kam auch noch Pech dazu. Und jetzt?
«Jetzt spüren wir, dass die kleinen Details häufig zu unseren Gunsten ausfallen», sagt Johan Djourou. Das kann niemand in Abrede stellen. Gerade wenn es um Schiedsrichterentscheide ging.
Am Tag vor dem grossen Spiel öffnet der Himmel in St.Petersburg seine Schleusen. Als die Schweizer ein letztes Mal vor dem Achtelfinal trainieren, regnet es in Strömen. Kurz zuvor sitzen Petkovic und Granit Xhaka vor der versammelten internationalen Presse. Es ist ein Pflichttermin.
Sie erledigen ihn nüchtern und unaufgeregt. Als ein schwedischer Journalist wissen will, wie denn Xhaka mittlerweile über seinen Doppeladler-Jubel denkt, antwortet dieser: «Ich habe die Frage nicht verstanden.» Der Medienchef ergänzt: «Wir beantworten nur Fragen zum Spiel.» Ende der Diskussion.
Xhaka ist und bleibt ein grosses Thema an dieser WM. In Schweden hat sich herumgesprochen, dass der Chef des Schweizer Spiels in der Premier League schon die eine oder andere rote Karte erhalten hat. Auch wenn die letzte vom Januar 2017 datiert. Darum sagt Mikael Lustig: «Unser Ziel ist es, dass Xhaka mit der roten Karte vom Platz fliegt.»
Xhaka antwortet: «Es ist ja nicht so, dass dies mein erstes Spiel wäre. Solche Provokationen gehören dazu. Das stört mich nicht.» Petkovic ergänzt: «Wirklich lustig.» Und lacht über seinen gelungenen kleinen Scherz.
Xhaka schmerzt sie besonders, die Erinnerung an den EM-Achtelfinal 2016. Weil er den entscheidenden Penalty verschoss. Xherdan Shaqiri sagte damals: «Ich bin überzeugt, Granit holt das Tor im WM-Achtelfinal 2018 nach.»
Jetzt hätte er die Gelegenheit dazu. Xhaka sagt: «Ich kann normal schlafen. Aber wenn Spiele stattfinden wie Spanien gegen Russland oder Kroatien gegen Dänemark, die im Penaltyschiessen enden, kommen schon einige Erinnerungen hoch. Aber eines ist klar: Ich stelle mich der Verantwortung erneut, wenn es wieder nötig sein sollte.» Petkovic legt seine Hände väterlich um Xhaka. Und sagt: «Solche Typen brauchen wir!»
Der Trainer verrät in diesen Tagen einige Anzeichen von Nervosität. Er weiss sehr genau, wie sehr dieses eine Spiel gegen Schweden in die Beurteilung seiner Arbeit einfliesst. Die Voraussetzungen für diesen Achtelfinal könnten noch etwas besser sein. Captain Stephan Lichtsteiner und Abwehrchef Fabian Schär fehlen gesperrt. Djourou und Lang ersetzen sie.
Ungelöst ist auch die Stürmerfrage. Die einzige Konstante: Es überzeugte immer jener Angreifer, den Petkovic im Verlauf des Spiels einwechselte. Das dürfte sich durchaus ändern. Aber Petkovic ist auch gefangen in einem Zwiespalt.
Einerseits sagt er: «Es ist nicht selbstverständlich, dass wir in einem Achtelfinal stehen. Das muss man tausendmal betonen.» Andererseits schiebt er gleich hinterher: «Wir sind hungrig auf mehr, der Sieg gegen Schweden soll nicht unser letztes Ziel bleiben.»
So ist das, wenn in der eigenen Tableau-Hälfte plötzlich alle grossen Mannschaften ausgeschieden sind. Ein bisschen vorausschauen muss erlaubt sein. Nur so erkennt man, wie einmalig sich die Chance für die Schweizer präsentiert. England oder Kolumbien hiesse der Gegner im Viertelfinal. Kroatien oder Russland im Halbfinal.
Es wäre ein Jammer, würde die Schweiz an den schwedischen Schränken scheitern.