Die Magie liegt in der Luft. Xherdan Shaqiri fliegt und trifft. Ein Wundertor so schön wie ein Gemälde. Das Schweizer Nationalteam elektrisiert ein ganzes Land. Der historische Viertelfinal ist greifbar. Und dann: Penaltyschiessen. Stille. Tränen. Trauer. Wieder ist es eine verpasste Chance.
469 Tage ist es her seit jenem EM-Achtelfinal der Schweiz gegen Polen. Die Erinnerung fällt schwer, weil die Enttäuschung am Ende so gross war. Doch vielleicht ist in dieser Enttäuschung auch etwas entstanden. Ein Geist, der diese Mannschaft trägt. Ein Zusammenhalt, der noch stärker macht. Eine Gewissheit, dass diese Gruppe eben doch mehr kann, als stets im Achtelfinal eines grossen Turniers auszuscheiden.
Seite jenem sonnigen Samstagnachmittag von St-Etienne ist die Schweizer Nationalmannschaft wie auf einer Mission. Die goldene Generation will beweisen, grosse Spiele auch gewinnen zu können.
Sie will mehr als einen U17-Weltmeistertitel. Sie will das Fussball-Land Schweiz einen Schritt weiter bringen. Sie hat genug von knappen Niederlagen wie im WM-Achtelfinal gegen Argentinien oder eben Polen.
Seit jenem tränenreichen Tag ist die Schweiz unschlagbar. Neun Spiele in Serie hat sie nun bereits gewonnen. Acht davon in der WM-Qualifikation. Das 2:0 zu Beginn gegen Portugal ist der herausragende Sieg.
Er ist die Basis dafür, dass die Schweiz vor den nun folgenden entscheidenden Tagen Tabellenführer der Gruppe B ist. Noch nie hat eine Schweizer Fussball-Mannschaft in einer Qualifikation für ein grosses Turnier derart erfolgreich abgeschnitten.
Trotzdem muss der Jubel warten. Denn die Spiele gegen Ungarn und Portugal sind so etwas wie die Tage der Wahrheit. Noch ist das Vertrauen in diese Einheit von Trainer Vladimir Petkovic etwas labil. Zu bescheiden war die Qualität der letzten Gegner. Von Lettland, Andorra oder den Färöer-Inseln.
Auch deshalb ist die Stimmung im Team und darum herum eher nüchtern als euphorisch. Das muss nichts Schlechtes bedeuten. Im Gegenteil. Das Bewusstsein, bis anhin meistens einfach die Pflicht erfüllt zu haben, zeugt von einer gewissen Reife. Trainer und Spielern ist bewusst, dass die echte Bewährungsprobe erst noch folgt.
Eine Stärke dieser Mannschaft ist es derzeit, in schwierigen Situationen immer wieder einen Ausweg zu finden. Das war beispielsweise in Ungarn so, als ein durchschnittlicher Auftritt mit dem späten 3:2 reich belohnt wurde. Dass nun Patron Valon Behrami in den entscheidenden Spielen ausfällt, ist bitter. Aber die Schweiz hat auch schon bewiesen, Ausfälle kompensieren zu können. Gegen Portugal fehlte beispielsweise Shaqiri.
Am liebsten möchte Petkovic erst ab Samstag kurz vor Mitternacht an Portugal denken. Weil zuvor die Aufgabe Ungarn ansteht. Es ist zu hoffen, dass es ihm gelungen ist, seinen Spielern dieses Denken ebenfalls einzutrichtern.
Die Rechnung ist einfach: Bleibt die Schweiz gegen Ungarn und Portugal ungeschlagen, ist die direkte WM-Qualifikation geschafft. Zwei Unentschieden reichen. «Ich bin schlecht in Mathematik», sagt Petkovic, «ich will jedes Spiel gewinnen. Und ausserdem wollen wir so richtig Schwung aufnehmen für die Finalissima in Portugal». Die Worte sind mehr als einfach so dahergeredet. Petkovic denkt wirklich so.
Und vielleicht ist das gar nicht schlecht. Für eine Generation, die nach mehr strebt. Ein Name wurde in dieser Woche im Nati-Camp immer wieder verhandelt: Cristiano Ronaldo. Was macht ihn aus? Wie stoppt man ihn?
Bis Granit Xhaka irgendwann zu Recht einwarf: «Eigentlich könnten wir auch ein bisschen mehr über uns und unsere Stärken reden.» Natürlich, Portugal ist Europameister. Aber man muss auch nicht unbedingt vergessen, dass es den Portugiesen in der EM-Vorrunde nicht gelang, gegen Ungarn, Island und Österreich auch nur einen Sieg zu holen. Mit Ronaldo.
Das «Estadio da Luz», das Stadion des Lichts, ist am Dienstag die Bühne. Es kann der erste grosse Schritt sein auf der Mission, Historisches zu erleben. Die Mannschaft kann beweisen, trotz Ronaldo und trotz des fehlenden Patrons Behrami unschlagbar zu sein. Die Schweiz ist bereit für Magie.